Poesie
Hebt hoch des Urtheils Waage und beschwert
Die eine Seite mit der Wucht der Fracht,
Die der verstand, der grübelnde, bescheert
Und in der Form der Dichtung dargebracht –
Legt auf die andre dann die bleichen Blüthen
Der Poesie, den kleinen, duftigen Strauß,
Der unverwelkt nach blinder Zeiten Wüthen
Mit Durst füllt unsres Lebens enges Haus –
Laßt dann die Hand! -: die Waagen werden steigen
Und fallen erst, bis eine höher schwankt,
Und deinem Sinn wird sich die Wurzel zeigen,
Aus der das Glück der Menschhaeit langsam rankt.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Poesie“ von John Henry Mackay beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Verstand und Poesie, zwischen rationaler Erkenntnis und künstlerischer Inspiration. Zu Beginn wird das „Urtheils Waage“ als Symbol für den inneren Ausgleich zwischen Verstand und Gefühl eingeführt. Auf der einen Seite wird die „Wucht der Fracht“ des Verstandes gelegt – eine Metapher für die schwere Last von Wissen, Logik und rationaler Überlegung, die der Verstand uns vermittelt. Der „grübelnde“ Verstand wird als eine Art Lastenheber dargestellt, der das Gewicht der Gedanken und Analysen trägt und in die „Form der Dichtung“ bringt. Diese Darstellung zeigt, wie der Verstand die Welt in greifbare, strukturierte Formen bringt, aber dabei möglicherweise die Leichtigkeit und den Charme der Poesie verfehlt.
Auf der anderen Seite der Waage wird die „bleichen Blüthen der Poesie“ abgelegt – hier geht es um die Schönheit und die zarten, flüchtigen Qualitäten der Poesie. Der „kleine, duftige Strauß“ ist ein Symbol für die feinen, oft unsichtbaren Wahrheiten und Emotionen, die in der Poesie Ausdruck finden. Diese Blüten „verwelken nicht“ und bringen eine „Durst füllende“ Erfrischung für das „enge Haus“ des Lebens. Die Poesie wird hier als lebensspendend dargestellt, als eine Quelle der Erneuerung und Inspiration, die uns in den schwierigen Zeiten des Lebens Kraft gibt. Sie ist nicht an die Zeit gebunden, sondern bleibt ein ewiger Trost und eine Quelle des Trostes, die selbst die schlimmsten Herausforderungen des Lebens überdauert.
Im dritten Vers wird das Bild der Waage wieder aufgenommen, und die Hand, die die Waage loslässt, symbolisiert den Moment, in dem der Mensch aufhört, zwischen Verstand und Poesie zu wägen, und der natürliche Ausgleich zwischen beiden Kräften entstehen kann. Die Waage „wird steigen und fallen“, was die Unvorhersehbarkeit und das ständige Wechselspiel zwischen Verstand und Gefühl verdeutlicht. Es wird jedoch ein Gleichgewicht erwartet, bei dem eine Seite, die der Poesie, letztlich „höher schwankt“. Diese Bewegung symbolisiert die allmähliche Überlegenheit der Poesie und der emotionalen Weisheit über den reinen Verstand, was dem Leser zeigt, dass wahres Glück und tieferes Verständnis aus der Verschmelzung von Rationalität und Kunst hervorgehen.
Im letzten Vers enthüllt sich die „Wurzel“ des Glücks der Menschheit, die langsam aus dem „Ranken“ von Verstand und Poesie wächst. Die „Wurzel“ steht für das tiefe, innere Verständnis, das entsteht, wenn der Mensch in der Lage ist, den rationalen Verstand mit der befreienden Kraft der Poesie zu vereinen. Mackay deutet hier an, dass das wahre Glück nicht nur aus Logik und Analyse resultiert, sondern auch aus der Fähigkeit, die Schönheit und die emotionale Tiefe der Poesie zu erleben und zu schätzen. Das Gedicht fordert den Leser auf, diese Balance zu suchen, um ein erfüllteres und tieferes Leben zu führen.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.