Die Schleier
Immer dunkler deine Lieder? –
Ja. Es kehrt zum Abstieg nieder,
Was missachtet-unverstanden,
Lag in jahreschweren Banden.
All die Klugen und die Kalten
Möchte ich zu Narren halten.
Meine Schleier will ich hissen
Über sie, die Alles wissen.
In geheimnisvolle Tiefen
Stimmen nach, die lockend riefen,
Die sie klagend-süß umhauchen,
Will ich ihre Klugheit tauchen…
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Schleier“ von John Henry Mackay beschäftigt sich mit der Spannung zwischen Wissen und Unwissen, Klarheit und Geheimnis sowie der Sehnsucht nach einer tieferen, mystischen Wahrheit. Zu Beginn fragt der Sprecher, ob seine „Lieder“ immer dunkler werden, was die zunehmende Tiefe und Komplexität seiner Gedanken und Gefühle suggeriert. Der „Abstieg“ hinunter symbolisiert dabei eine Rückkehr zu etwas Ursprünglichem oder Unverständlichem, das im Laufe der Zeit „missachtet und unverstanden“ wurde. Es könnte auch die Annäherung an verborgene oder verdrängte Wahrheiten darstellen, die von der Gesellschaft oder den „Klugen“ nicht erkannt oder anerkannt werden.
Im nächsten Vers drückt der Sprecher seinen Wunsch aus, die „Klugen und Kalten“ zu „Narren zu halten“. Dies ist ein provokanter Ausdruck seiner Unzufriedenheit mit der Vernunft und Rationalität, die die Welt beherrschen. Die „Klugen“ werden hier als diejenigen dargestellt, die sich auf ihre intellektuelle Überlegenheit verlassen und alles rational erklären wollen, ohne Platz für das Unbekannte oder Mystische zu lassen. Der Sprecher möchte die „Schleier“ hissen, was metaphorisch für die Wiederherstellung von Geheimnissen und verborgenen Wahrheiten steht, die der Intellekt nicht begreifen kann. Diese Schleier sind eine Art Schutz oder Verschleierung, die die Wahrheit vor den „Alles-Wissern“ verbirgt.
Die „geheimnisvollen Tiefen“, die in den folgenden Versen angesprochen werden, stellen das Unergründliche und das Mystische dar. Der Sprecher scheint von einer inneren Sehnsucht getrieben zu sein, die „Stimmen“ nachzuhören, die ihn „klagend-süß umhauchen“. Diese Stimmen könnten für die verborgenen, emotionalen oder spirituellen Wahrheiten stehen, die jenseits des rationalen Verstehens liegen. Sie locken den Sprecher in eine Welt, die nicht durch intellektuelle Weisheit erfasst werden kann, sondern durch das Gefühl, die Intuition und das Mysterium.
Der abschließende Vers, in dem der Sprecher die „Klugheit tauchen“ möchte, deutet darauf hin, dass er die Menschen von ihrem festen, oft arroganten Wissen befreien möchte. Indem er „die Klugheit taucht“, will er das Bewusstsein der „Klugen“ in die tiefen, unbewussten und mystischen Bereiche des Lebens führen, in denen rationales Wissen an seine Grenzen stößt. Mackay kritisiert hier die Beschränkungen der reinen Vernunft und fordert den Leser zu einer anderen Form des Wissens auf – einem Wissen, das auf Gefühl, Intuition und einer Akzeptanz des Unbekannten basiert. Das Gedicht ist eine Einladung, sich dem Geheimnisvollen zu öffnen und die Grenzen des verstandesmäßigen Wissens zu überschreiten.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.