Die Gewohnheit
Ich bin ein Morgentraum, der schwer
Auf deinem Herzen liegt;
Ich bin ein Kuß, der liebeleer
An deinem Mund sich schmiegt.
Ich bin die Stimme deiner Zeit,
Und wie du dich empörst:
Ich bin’s, auf die in Lust und Leid
Du stets als erste hörst.
Ich lenke dich mit leiser Hand.
Du ahnst nicht, wer ich bin.
Ich bin dir, die du nie gekannt,
Treuste Begleiterin:
Du kennst die Wahrheit, doch du lügst
Und dein ist meine Schuld;
Du liebst die Freiheit und du fügst
Dich feig – ich sprach: Geduld.
Ich bin der Trägheit dumpfer Hauch,
Dein Wille liegt erschlafft;
Ich sorge, dass aus altem Brauch
Kein neuer Ton dich rafft.
Ich nehme dich an meine Brust, –
Wenn schmerzlich auf die schreist –
Ich bin es, der du unbewußt
Dein bestes Leben weihst!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Gewohnheit“ von John Henry Mackay beschäftigt sich mit der allgegenwärtigen und oft unsichtbaren Macht der Gewohnheit und ihrer Einflussnahme auf das Leben des Einzelnen. Zu Beginn des Gedichts beschreibt der Sprecher, wie die Gewohnheit wie ein „Morgentraum“ auf dem Herzen des Menschen liegt. Dieser Traum ist „schwer“, was auf die Belastung und das Gefühl der Schwere hinweist, das die Gewohnheit mit sich bringt. Sie ist präsent und konstant, jedoch ohne echte Leidenschaft oder Erneuerung. In der Zeile „Ich bin ein Kuß, der liebeleer / An deinem Mund sich schmiegt“ wird die Gewohnheit als etwas beschrieben, das zwar anwesend ist, aber ohne echte Zuneigung oder Tiefe. Es ist eine leere Wiederholung, die den Menschen umgibt, ohne ihn zu erheben.
Im weiteren Verlauf des Gedichts wird die Gewohnheit als eine Art Stimme der „Zeit“ dargestellt, die den Menschen sowohl in „Lust“ als auch „Leid“ begleitet. Diese Stimme ist omnipräsent und wird immer als erste wahrgenommen, was darauf hinweist, dass die Gewohnheit tief in das tägliche Leben des Menschen eingreift. Sie ist so allgegenwärtig, dass der Mensch sie nicht einmal bewusst wahrnimmt, sondern sie ihm nur in den Momenten der Freude oder des Leidens als erste Antwort erscheint. Diese Darstellung unterstreicht die Macht der Gewohnheit, die so sehr Teil des Lebens geworden ist, dass sie fast unbemerkt das Verhalten und die Reaktionen des Menschen bestimmt.
Die Gewohnheit lenkt den Menschen mit „leiser Hand“, was ihre subtile, aber dennoch tiefgreifende Kontrolle verdeutlicht. Sie beeinflusst den Willen des Einzelnen ohne dessen Wissen oder Bewusstsein. Der Sprecher erklärt, dass der Mensch die Wahrheit kennt, aber sich der Gewohnheit hingibt und „lügt“, indem er seine Freiheit aufgibt und sich „feig“ fügt. Die Gewohnheit wird hier als eine Form der Selbsttäuschung dargestellt, die den Menschen in einem Zustand der Passivität und des Ausharrens hält, ohne ihn aktiv nach Veränderung oder Wachstum streben zu lassen.
Im abschließenden Teil des Gedichts wird die Gewohnheit als der „Trägheit dumpfer Hauch“ beschrieben, der den Willen des Menschen „erschlafft“ und dafür sorgt, dass der Mensch in alten, gewohnten Bahnen bleibt, ohne den Impuls zu Veränderung oder Erneuerung zu spüren. Die Gewohnheit nimmt den Menschen an ihre „Brust“, wenn er in Schmerz oder Frustration nach einer Lösung sucht, und in dieser Annahme opfert der Mensch unbewusst das „beste Leben“, das er führen könnte. Der Gedichtschluss zeigt, wie die Gewohnheit den Menschen in einer Art Stagnation hält, indem sie ihn in bequeme, aber letztlich selbstzerstörerische Muster zwingt. Mackay kritisiert hier die lähmende Wirkung der Gewohnheit, die das Potenzial des Einzelnen einschränkt und ihn von wahrer Freiheit und Veränderung abhält.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.