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Vermächtnis

Von

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ew’ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebend’gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, fass‘ es an.
Verdank‘ es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr die Sonne zu umkreisen
Und dem Geschwister wies die Bahn.

Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen,
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.

Genieße mäßig Füll‘ und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendige
Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist allein ist wahr;
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.

Und wie von Alters her, im stillen,
Ein Liebewerk, nach eignem Willen,
Der Philosoph, der Dichter schuf;
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.

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Gedicht: Vermächtnis von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Vermächtnis“ von Johann Wolfgang von Goethe ist eine philosophische Reflexion über die Beständigkeit des Seins, die Bedeutung der Wahrheit und die Rolle der Vernunft im menschlichen Leben. In feierlichem Ton formuliert Goethe eine Art Lebenslehre, die zur inneren Einkehr, zur Achtung der Naturgesetze und zum bewussten Erleben des Augenblicks auffordert.

In der ersten Strophe betont er die Ewigkeit des Seins: Nichts vergeht völlig, alles wandelt sich und bleibt in irgendeiner Form bestehen. Dieses harmonische Weltbild wird durch Naturgesetze geordnet, die das Universum erhalten. Damit drückt Goethe eine optimistische Sicht auf die Existenz aus, die sich mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis und spiritueller Einsicht verbindet.

Ein zentrales Motiv des Gedichts ist die Suche nach Wahrheit. Goethe fordert dazu auf, sich auf das „alte Wahre“ zu besinnen – eine Anspielung auf die klassische Philosophie und die ewigen Prinzipien, die den Menschen leiten sollen. Diese Wahrheit liegt im Inneren des Menschen, im selbstständigen Gewissen, das als innere Sonne für moralisches Handeln dient. Dadurch wird der Mensch fähig, die Welt klar wahrzunehmen und sich sicher in ihr zu bewegen.

Die letzten Strophen ermutigen zu einem maßvollen, vernunftgeleiteten Leben. Wer bewusst im gegenwärtigen Moment lebt, verbindet Vergangenheit und Zukunft und erreicht eine Art zeitlose Erfüllung. Am Ende stellt Goethe den Dichter und Philosophen als Idealfigur dar: Wer die edlen Seelen „vorzufühlen“ vermag, also intuitiv die tiefsten Wahrheiten erkennt, erfüllt eine besonders erstrebenswerte Aufgabe. „Vermächtnis“ ist somit eine poetische Zusammenfassung von Goethes Welt- und Lebensanschauung, die Natur, Vernunft und Kunst in Einklang bringt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.