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Urworte. Orphisch

Von

Daimon, Dämon

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Tychê, das Zufällige

Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ist’s bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.

Erôs, Liebe

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

Anankê, Nötigung

Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.

Elpis, Hoffnung

Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!

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Gedicht: Urworte. Orphisch von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Urworte. Orphisch“ von Johann Wolfgang von Goethe behandelt grundlegende, existenzielle Prinzipien des menschlichen Lebens, die in fünf Urbegriffen – „Daimon“, „Tychê“, „Erôs“, „Anankê“ und „Elpis“ – dargestellt werden. Diese Begriffe stammen aus der griechischen Philosophie und Mythologie und symbolisieren Schicksal, Zufall, Liebe, Notwendigkeit und Hoffnung.

Im ersten Abschnitt („Daimon“) wird das individuelle Schicksal als unausweichlich beschrieben. Der Mensch ist an die Konstellation gebunden, unter der er geboren wurde, und kann seiner vorgeprägten Natur nicht entkommen. Dies verweist auf die Idee einer höheren Ordnung, die das Leben bestimmt. „Tychê“, der Zufall, durchbricht diese festgelegte Struktur jedoch in gewisser Weise, indem er Wandel und Unberechenbarkeit in das Leben bringt. Das Schicksal ist also nicht starr, sondern wird von äußeren Einflüssen mitgeformt.

Mit „Erôs“, der Liebe, tritt eine Kraft in Erscheinung, die das Leben in Bewegung setzt und Menschen verbindet. Sie ist ambivalent, bringt sowohl Glück als auch Schmerz und kann nicht kontrolliert werden. Doch auf „Erôs“ folgt „Anankê“, die Notwendigkeit oder das unerbittliche „Muss“ des Lebens. Hier zeigt sich das Spannungsfeld zwischen menschlichem Wollen und den Zwängen der Realität – letztlich unterwirft sich der Mensch den Gesetzen des Daseins.

Den Abschluss bildet „Elpis“, die Hoffnung, die als befreiende Kraft beschrieben wird. Sie öffnet Grenzen und überwindet die Last des Schicksals. Durch sie kann der Mensch sich über die Zwänge der Existenz erheben und in eine höhere, freiere Dimension aufsteigen. Damit endet das Gedicht mit einem Ausblick auf die Möglichkeit der Überwindung aller Beschränkungen – eine optimistische Perspektive auf das menschliche Dasein. „Urworte. Orphisch“ ist somit eine philosophische Reflexion über die Grundkräfte, die das Leben bestimmen, und zeigt Goethes tiefe Auseinandersetzung mit Schicksal, Freiheit und menschlicher Entwicklung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.