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Osterspaziergang

Von

Faust I, 2. Szene, Vor dem Tor

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
im Tale grünet Hoffnungsglück.
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend nur,
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur;
aber die Sonne duldet kein Weißes:
überall regt sich Bildung und Streben,
alles will sie mit Farben beleben;
doch an Blumen fehlt’s im Revier,
sie nimmt geputzte Menschen dafür.

Kehre dich um, von diesen Höhen
nach der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern;
sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden,
aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbebanden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Straßen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.

Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge
durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluß, in Breit‘ und Länge
so manchen lustigen Nachen bewegt,
und bis zum Sinken überladen
entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
hier ist des Volkes wahrer Himmel,
zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!

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Gedicht: Osterspaziergang von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Osterspaziergang“ aus „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in leuchtenden Bildern den Übergang vom Winter zum Frühling und verknüpft diesen Naturprozess mit einem Gefühl von Hoffnung und Erneuerung. Der erste Abschnitt schildert, wie der Frühling die Natur zum Leben erweckt: Eis und Schnee weichen der wachsenden Wärme, und überall regt sich neues Wachstum. Dabei wird die Sonne als treibende Kraft dargestellt, die nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen aus ihrer Winterstarre erlöst.

Im zweiten Teil verlagert sich der Blick auf die Stadt und ihre Bewohner. Die Menschen strömen aus den dunklen und engen Behausungen ins Freie, um das Osterfest und den Frühling zu feiern. Diese Bewegung aus der Enge ins Licht symbolisiert eine Art persönliche Auferstehung – ein Sinnbild für neue Lebensfreude und Freiheit nach den kalten, bedrückenden Wintermonaten. Dabei verbindet Goethe geschickt religiöse Symbolik mit einer weltlichen, lebensbejahenden Perspektive: Die Menschen feiern nicht nur die christliche Auferstehung, sondern auch ihre eigene Wiedergeburt im Licht und in der Natur.

Der berühmte Schlussvers „„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!““ fasst das zentrale Motiv des Gedichts zusammen: Der Frühling und das Osterfest ermöglichen ein Gefühl der Lebendigkeit, der Freiheit und der Selbstverwirklichung. Diese Szene ist für „Faust“ besonders bedeutungsvoll, da sie ihm einen Moment des Innehaltens und des Einsseins mit der Welt gewährt – im Gegensatz zu seinem sonstigen Streben nach Wissen und Erkenntnis. Damit vermittelt der „Osterspaziergang“ eine tiefe Sehnsucht nach Einfachheit, Harmonie und einem unmittelbaren Erleben des Lebens.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.