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Der Abendstern

Von

De bisch au wieder zitli do
und laufsch der Sunne weidli no,
du liebe, schönen Obestern!
Was gilt’s, de hättsch di Schmützli gern!
Er trippelt ihre Spure no,
und cha si doch nit übercho.
Von alle Sterne groß und chlei
isch er der liebst, und er ellei;
si Brüderli der Morgestern,
si het en nit ums halb so gern;
und wo sie wandlet us und i,
se meint sie, müeß er um sie si.
Früeih, wenn sie hinterm Morgerot
wohl ob em Schwarzwald ufe goht,
sie führt ihr Bübli an der Hand,
sie zeigt em Berg und Strom und Land,
sie seit: „Tue gmach, ’s pressiert nit so!
Di Gumpe wird der bald vergoh.“
Er schwezt und frogt sie das und deis,
sie git em Bricht, so guet sie ’s weiß.
Er seit: „O Mutter, lueg doch au,
do unte glänzt’s im Morgetau
so schön wie in dim Himmelssaal!“
„He“, seit sie, „drum isch’s ’s Wiesetal.“
Sie frogt en: „Hesch bald alles gseh?
Jez gangi, und wart nümme meh.“
Druf springt er ihrer Hand dervo,
und mengem wiiße Wülkli no;
do, wenn er meint, jez han i di,
verschwunden isch’s, weiß Gott, wohi.
Druf, wie si Mutter höcher stoht,
und alsgmach gegenem Rhistrom goht,
se rüeft sie ‚m: „Chumm und fall nit do!“
Sie führt en fest am Händli no:
„De chönntsch verlösche, handumcher.
Nimm, was mer’s für e Chummer wär!“
Doch, wo sie überm Elsis stoht,
und alsgmach ehnen abe goht,
wird nootno ’s Büebli müed und still,
’s weiß nümme, was es mache will;
’s will nümme goh, und will nit goh,
’s frogt hundertmol: „Wie wit isch’s no?“
Druf, wie sie ob de Berge stoht,
und tiefer sinkt ins Oberot,
und er afange matt und müed
im rote Schimmer d’Heimet sieht,
se loßt er sie am Fürtuch goh,
und zottlet alsgmach hinte no.
In d’Heimet wandle Herd und Hirt,
der Vogel sizt, der Chäfer schwirt;
und ’s Heimli betet dört und do
si luten Obesege scho.
Jez, denkt er, hani hochi Zit;
Gott Lob und Dank, ’s isch nümme wit.
Und sichtber, wiener nöcher chunnt,
umstrahlt si au si Gsichtli rund.
Drum stoht si Mutter vorem Hus:
„Chumm, weidli chumm, du chleini Muus!“
Jez sinkt er freudig niederwärts –
jez isch’s em wohl am Muetterherz.
Schlof wohl, du schönen Obestern!
’s isch wohr, mer hen di alli gern.
Er luegt in d’Welt so lieb und gut,
und bschaut en eis mit schwerem Mut,
und isch me müed, und het e Schmerz,
mit stillem Friede füllt er’s Herz.
Die anderen im Strahlegwand,
he frili jo, sin au scharmant.
O lueg, wie ’s flimmert wit und breit
in Lieb und Freud und Einigkeit!
’s macht kein em andere ’s Lebe schwer,
wenn’s doch do nieden au so wär!
Es chunnt e chüeli Obeluft,
und an de Halme hangt der Duft.
Denkwohl, mer göhn jez au alsgmach
im stille Frieden unters Dach!
Gang, Liseli, zünd ’s Ämpli a!
Mach kei so große Dochte dra!

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Gedicht: Der Abendstern von Johann Peter Hebel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Abendstern“ von Johann Peter Hebel ist ein poetisches und liebevolles Naturbild, das in Form einer kleinen Geschichte die Bewegung des Abendsterns über den Himmel schildert. Es personifiziert den Abendstern als „Büebli“ (kleiner Junge), der seiner „Mutter“, der Sonne, durch den Tageslauf folgt. Dabei spiegelt das Gedicht die natürliche Ordnung und das Zusammenspiel von Tag und Nacht wider, vermittelt aber auch eine kindliche Nähe zwischen dem Abendstern und der Sonne.

Hebel greift auf eine volkstümliche, mundartliche Sprache zurück, die das Geschehen vertraut und herzlich wirken lässt. Der Abendstern wird als neugierig, verspielt und etwas ungeduldig dargestellt, da er immer der Sonne nacheilt und ihr Fragen stellt. Doch je weiter die Sonne sich entfernt, desto müder wird das „Büebli“. Diese Erschöpfung am Ende des Tages symbolisiert das natürliche Einschlafen und Ruhen nach dem Tageswerk. Die „Mutter Sonne“ leitet ihn fürsorglich durch den Tag und nimmt ihm am Ende sanft in die Nacht hinein.

Das Gedicht besitzt eine ruhige, friedvolle Stimmung, die durch die Bilder des Hirten, der heimkehrenden Tiere und der betenden Menschen noch verstärkt wird. Die Darstellung der abendlichen Natur schafft eine Atmosphäre von Geborgenheit und Harmonie, die das Gedicht auch zu einer Art Schlaflied macht. Der abschließende Aufruf, das „Ämpli“ (die Lampe) anzuzünden, schlägt den Bogen zum menschlichen Zuhause und rundet die Szene mit einem liebevollen häuslichen Bild ab.

Neben der Naturbetrachtung vermittelt das Gedicht auch eine stille Lebensweisheit: Es zeigt, wie alles in der Natur in friedlicher Ordnung verläuft und wie der Tag und das Leben selbst mit Müdigkeit und Zufriedenheit enden. Hebels Zeilen wirken wie eine Einladung zur inneren Ruhe und zum Einklang mit der Natur, in der jeder seinen Platz findet – eine sanfte, versöhnliche Botschaft über das Ende des Tages und den Beginn der Nacht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.