Das Liedlein vom Kirschbaum
Der lieb Gott het zum Früehlig gseit:
„Gang, deck im Würmli au si Tisch!“
Druf het der Chriesbaum Blätter treit,
vil tausig Blätter grün und frisch.
Und ’s Würmli us em Ei verwacht’s,
s het gschlofen in sim Winterhus.
Es streckt si, und sperrt ’s Müüli uf
und ribt die blöden Augen us.
Und druf se het’s mit stillem Zahn
am Blättli gnagt enanderno
und gseit: „Wie isch das Gmües so guet!
Me chunnt schier nimme weg dervo.“
Und wieder het der lieb Gott gseit:
„Deck jez im Immli au si Tisch.“
Druf het der Chriesbaum Blüte treit,
viel tausig Blüte wiiß und frisch.
Und ’s Immli sieht’s und fliegt druf los,
früeih in der Sunne Morgeschin.
Er denkt: „Das wird mi Caffi si;
si henn doch chosper Porzelin.
Wie sufer sin die Chächeli gschwenkt“
Es streckt si troche Züngli dri.
Es trinkt und seit: „Wie schmeckt’s so süß,
do muß der Zucker wohlfel si.“
Der lieb Gott het zum Summer gseit:
„Gang, deck im Spätzli au si Tisch!“
Druf het der Chriesbaum Früchte treit,
viel tausig Chriesi rot und frisch.
Und ’s Spätzli seit: „Isch das der Bricht?
Do sitzt me zu, und frogt nit lang.
Das git mer Chraft in Mark und Bei
und stärcht mer d’Stimm zum neue Gsang.“
Der lieb Gott het zum Spötlig gseit:
„Ruum ab, sie hen jez alli gha!“
Druf het e chüele Bergluft gweiht,
und ’s het scho chleini Rife gha.
Und d’Blättli werde gel und rot
und fallen eis im andere no,
und was vom Boden obsi chunnt,
mueß au zum Bode nidsi go.
Der lieb Gott het zum Winter gseit:
„Deck weidli zu, was übrig ist.“
Druf het der Winter Flocke gstreut –
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Liedlein vom Kirschbaum“ von Johann Peter Hebel erzählt in einfachen, volkstümlichen Bildern vom Kreislauf der Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Im Mittelpunkt steht der Kirschbaum, der von Gott nach und nach für verschiedene Lebewesen gedeckt wird – für das Würmchen, das Immlein und das Spätzli. Dabei wird der Baum zur Lebensgrundlage für unterschiedlichste Tiere und erfüllt seine Aufgabe in jeder Phase des Jahres auf neue Weise.
In den ersten drei Strophen zeigt Hebel die Entfaltung des Lebens im Frühling und Sommer. Zunächst bietet der Kirschbaum seine frischen Blätter dem hungrigen Würmchen, dann seine süßen Blüten dem Immlein, das an Honig erinnert, und schließlich seine reifen Kirschen dem Spätzli, das durch die Früchte Kraft und Freude für seinen Gesang schöpft. Gott lenkt hier als fürsorgliche Kraft das Geschehen und sorgt dafür, dass jedes Lebewesen zur rechten Zeit seinen Platz und sein Auskommen findet.
Im letzten Teil schlägt das Gedicht einen ruhigeren Ton an: Der Herbst kehrt ein, das Laub fällt, und mit dem Winter legt sich schließlich der Schnee über alles und schließt den Kreislauf ab. Der Kirschbaum hat seine Aufgabe erfüllt, und alles bereitet sich auf die Ruhezeit vor. Die Kühle und die Vergänglichkeit werden zwar benannt, doch auf sanfte Weise – die Natur geht ihren Lauf, ohne dramatische Zuspitzung.
Hebel gestaltet mit einfacher Sprache und klaren Bildern ein Naturgedicht, das sowohl kindlich-heiter als auch besinnlich wirkt. Die wiederkehrenden Ansprachen Gottes und das strukturierte Fortschreiten von Frühling bis Winter machen das Gedicht zu einem liebevollen Gleichnis für das Geben und Nehmen in der Natur und für den Kreislauf des Lebens selbst.
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Lizenz und Verwendung
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