Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , ,

Pätus und Arria

Von

Zu einer Stadt, wo alles frei
wird aus- und eingeführet;
und wo, wenn’s den Transit bezahlt,
auch wohl Genie passieret,

Da kam auch einst ein junger Mann
auf die berühmte Messen,
der hatt an Kunst und an Gefühl
den Gecken sich gefressen;

Und hat der Jugend goldne Zeit
mit Schnitzlen sich verdorben,
schnitt „Arria und Pätus“ aus,
just wie die Narrn gestorben.

Als wär es nicht schon schlimm genug
daß man so was muß lesen,
wie in dem blinden Heidentum
der Mensch verderbt gewesen.

Ist’s nötig daß der Jugend wird
solch Beispiel eingepräget,
von Leuten die durch Satans List
selbst Hand an sich geleget!

Hätt er davor beim Hofrat Böhm
Jus Publicum gehöret
und was vom Mist und vom Damast
Herr Schröder gründlich lehret.

So könnte man ihn irgendwo
in ein Kolleg’um setzen,
und er braucht nicht durch seine Kunst
die Sitten zu verletzen!

Und nun stellt er vor Weigands Tür
das Bild gar aus zum Schauen!
und alles läuft hin, jung und alt,
die Männer und die Frauen.

So schlimm der Gegenstand auch war,
so muß man doch gestehen,
viel Kunst und noch viel mehr Natur
war an dem Bild zu sehen.

Und denn, so ist die Jugend schwach,
setzt sich gleich an die Stelle
und überleget nicht genau
den Unterschied der Fälle.

So ging’s auch hier, sie weinten laut,
vergaßen Sehn und Hören,
und fieln einander um den Hals,
als ob sie’s selber wären.

Und als sie rief: „Es tut nicht weh“;
und er den Dolch nun zückte,
da ging der Dolch durch jedes Herz,
des Auge dahin blickte.

Doch Leute die bei Jahren warn
und die in Ämtern stunden,
die hatten bald das Ridikül
von dieser Tat empfunden.

Und strichen sich das Unterkinn
und schwurn bei ihrer Ehre,
man mache zu viel Lärm, daß nun
ein Narre wen’ger wäre.

Auch manchem steif honetten Mann,
den Gott und seine Gaben,
vor einer Sünde dieser Art
vorlängst bewahret haben;

Wünscht sich und seinem Weibe Glück
daß er in seinem Leben
durch kein gefährlich Ding wie dies
ein Ärgernis gegeben.

Das alles half dem Lärm nicht ab,
der mehrte sich indessen,
die Jungens und die Mädchen warn
gar auf das Ding versessen;

Und man befürchtete mit Recht,
das Herz möcht ihnen brechen,
und wenn sie sich einst satt geküßt,
sie möchten sich erstechen.

Da kam ein schöner Geist herbei
und zeigt durch seine Lehren,
„das Interesse dieses Werks
beruhte auf Schimären:

Sollt sich wohl die Ministersfrau,
weil man den Mann verwiesen,
gleich in der ersten Ungeduld,
erstechen und erschießen!

Denn stellt von tausend Fällen euch
nur einen in Gedanken,
wie’s anders gehen konnt! wie bald
wird das Intresse schwanken!

Gesetzt es hätte der Tyrann
das Urteil unterschrieben,
allein es reute ihn, und wünscht,
es wäre unterblieben:

Und er ließ nun den braven Mann
mit Ehr und Gut beschenken,
und dieser zög aufs Land, um fern
vom Hof und seinen Ränken,

Sein väterliches Gut zu baun,
die Kinder zu erziehen,
und dankt der Vorsicht in der Still
für das, so sie verliehen.

Ist das nicht besser, als wenn er
sogleich, der Welt verdrossen,
sich in der ersten Stunde hätt
erstochen und erschossen.“

Auch sorgt der Rektor jenes Orts
daß in dem Schulexamen,
zwei Knaben über diesen Text
zu disputieren kamen.

Die zeigten denn durch Mendelssohn
und die Empfindungsbriefe,
daß aller Selbstmord in der Welt
am Ende dahin liefe:

Daß man im Unglück sich so ließ
durch Sinnlichkeiten rühren,
die höh’re Seelenkräfte nicht
das Ruder ließe führen;

Dagegen sollt der Mensch, als Herr,
sich wissen zu regieren,
und eh er sich erschießen wollt,
sich lieber distrahieren.

In Leipzig ging’s derweile bunt!
mit Recht war zu besorgen,
die Leute die erstächen sich
am lieben hellen Morgen.

Es fürchteten am Ende gar
die feisten Sup’rindenten,
die Weiber präsentierten ihn’n
den Dolch in ihren Händen,

Und riefen: „Herr, es tut nicht weh!“
Da hätten sie sich schämen,
und gar vielleicht in eigne Hand
den Degen müssen nehmen.

Drum setzten sie sich an den Tisch
in ihren großen Krägen,
und fingen an mit Gott und Mut
die Sach zu überlegen.

Und wurden eins, daß man sogleich
den Männern und den Frauen,
bei hundert Taler Straf verbot
das Bildchen anzuschauen.

Der Fremdling der sich unterstünd
dergleichen einzuführen,
soll künftig auf der Stelle gleich
den Kopf dafür verlieren.

Den Künstlern in dem Lande sei’s
doch unverwehrt indessen,
von Bildern dieser Art hinfür
auf allen ihren Messen,

Zu schnitzeln, zu behaun, und auch
im Lande zu verfahren!
weil nie ein solches Ärgernis
von ihnen zu befahren.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Pätus und Arria von Johann Heinrich Merck

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Pätus und Arria“ von Johann Heinrich Merck ist eine satirische Ballade, die sich kritisch und mit beißendem Spott mit der zeitgenössischen Sensationslust, moralischen Entrüstung und dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Sittlichkeit auseinandersetzt. Im Mittelpunkt steht ein geschnitztes Kunstwerk, das den Doppelselbstmord des römischen Paares Arria und Pätus darstellt – eine tragische Szene, die in der antiken Literatur oft als Beispiel für heroische Tugend gedeutet wurde. Merck nutzt diesen Stoff, um den Konflikt zwischen ästhetischer Wirkung und gesellschaftlicher Moral auf humorvolle und zugleich scharfsinnige Weise zu kommentieren.

Der junge Künstler bringt seine Skulptur auf eine Messe in Leipzig – eine Stadt, in der alles, so der spöttische Ton, passieren darf, solange es nur die „Transit“-Gebühr bezahlt. Das Kunstwerk löst starke emotionale Reaktionen aus, besonders bei der Jugend, die sich so sehr in das dargestellte Drama hineinsteigert, dass man fast befürchten muss, sie könnten den Doppelselbstmord nachahmen. Merck überzeichnet hier mit ironischem Unterton die Empfänglichkeit der Jugend für übersteigerte Gefühlswelten – ein typisches Motiv der Empfindsamkeit, das er zugleich karikiert.

Parallel dazu stellt das Gedicht die Reaktion der „vernünftigen“ Gesellschaftsschicht dar: die Alten, Honoratioren und Beamten, die das Ganze als lächerlich abtun und den Künstler wie das Publikum für gefährlich halten. Besonders bissig ist die Darstellung der Sup’rindenten (wohl geistliche Aufsichtsbeamte), die sich durch das populäre Bild in ihrer Autorität bedroht sehen. Merck spielt hier mit der Heuchelei und Scheinmoral der Obrigkeit, die im Namen von Anstand und Ordnung mit drastischen Maßnahmen reagiert – das Kunstwerk wird verboten, der Künstler soll sogar hingerichtet werden.

Doch Merck belässt es nicht bei der reinen Satire. Er bringt in der Figur des „schönen Geists“ eine aufklärerische Stimme ein, die die emotionale Wirkung des Kunstwerks relativiert und durch rationale Gedankenspiele hinterfragt, ob der Selbstmord der Arria tatsächlich ein vorbildhaftes Verhalten sei. Auch Schüler debattieren im Schulunterricht über das Thema und beziehen sich auf Philosophen wie Mendelssohn. Damit reflektiert das Gedicht die zeitgenössische Debatte über Selbstmord, Empfindsamkeit und Vernunft, wie sie in der Aufklärung geführt wurde.

Insgesamt ist „Pätus und Arria“ eine kluge, vielschichtige Kritik an moralischer Aufregung, verlogener Tugend, oberflächlichem Kunstverständnis und überzogener Empfindsamkeit. Merck gelingt es, ein scheinbar harmloses Kunstwerk zum Ausgangspunkt einer breiten gesellschaftlichen Satire zu machen, die sowohl über die Wirkung der Kunst als auch über den Umgang mit ihr aufklärt – mit Witz, Ironie und einem unübersehbaren aufklärerischen Impuls.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.