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Ruhe

Von

Ruhe jeder Leidenschaft
Tränkt das Herz mit Götterkraft;
Ruhe stählet Sehn‘ und Mark,
Macht zu jeder Bürde stark.

Ruhe führt des Sehers Sinn
Höher durch die Welten hin,
Wo er Orionen mißt
Und der Erde Sand vergißt.

Ruhe senkt des Weisen Blick
Tiefer zu der Brüder Glück;
Ruhe mißt am Lebensstab
Richtig Zweck und Mittel ab.

Ruhe zückt des Kriegers Schwert
Blitzender für Haus und Herd;
Ruhe biethet der Gefahr
Fester Stirn und Busen dar.

Ruhe scheucht wie Sonnenblick
Nebel von dem Pfad zurück;
Ruhe lehrt, was gut und schön,
In dem hellsten Lichte sehn,

Ruhe reihet jedes Ding
In der Kette rechten Ring;
Ruhe bleibet, immer rein,
Jeder Freude Probestein.

Ruhe zieht aus Gottes Luft
Süßer seines Lenzes Duft;
Ruhe schmeckt der Traube Blut
Geistiger zu hohem Muth.

Ruhe trinkt zum zweyten Mahl
Aus der Freude Festpokal;
Ruhe trägt die Freuden heim,
Wie die Biene Honigseim.

Ruhe hat bey schwarzem Brot
Götterkost im Abendroth;
Ruhe schöpft zum Nectartrank
Wasser von der Rasenbank.

Ruhe trotzt dem nahen Sturm
Wie die Wach‘ im Felsenthurm;
Ruhe sieht ins offne Grab
Ohne Herzensangst hinab.

Ruhe nicht, die ohne Sinn,
Ohne Schaden und Gewinn,
Wie die Schlafsucht um sich gähnt,
Aber kaum die Glieder dehnt;

Ruhe nicht, die matt und stumpf
Bey dem Menschenelend dumpf,
Ohne Herz und Regung sitzt,
Und den Schweiß der Dummheit schwitzt;

Ruhe nicht, die auf die Qual,
Auf die Leiden ohne Zahl
Ihrer Mitgeschöpfe schielt,
Aber nichts mit ihnen fühlt.

Ruhe, welche über Welt
Kopf und Herz in Eintracht hält;
Ruh der Tugend und ihr Lohn,
In der Hütt‘ und um den Thron.

Ruhe, die mit süßem Hang
Tröstung reicht und Labetrank;
Ruhe, die den letzten Deut
Einem ärmern Bruder beut.

Ruhe, welche Säcke Gold
Wie die Kieselwacken rollt;
Ruhe, die am Hochgericht
Wie bey Bechern Wahrheit spricht.

Ruhe, wie Elysium
In der Seele Heiligthum,
Die mit stiller Majestät
Durch die große Schranke geht.

Diese Ruhe hält noch fest,
Wenn uns Welt und Sinn verläßt,
Drückt uns sanft die Augen zu;
Himmel, gib mir diese Ruh!

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Gedicht: Ruhe von Johann Gottfried Seume

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ruhe“ von Johann Gottfried Seume ist eine feierliche Hymne auf die geistige und seelische Ruhe, die er als Quelle innerer Kraft, moralischer Klarheit und wahrer Lebensfreude beschreibt. In durchweg klassisch aufgebauten vierzeiligen Strophen entfaltet Seume ein Ideal der Ruhe, das weit über bloße Passivität hinausgeht und als aktive, tugendhafte Haltung verstanden wird.

Die Ruhe erscheint dabei als göttliche Kraft, die sowohl den Körper stärkt als auch den Geist erhebt: Sie gibt dem Seher Weitblick, dem Weisen Einsicht, dem Krieger Mut, dem Gerechten Standhaftigkeit. Immer wieder betont Seume, dass diese Ruhe nicht Gleichgültigkeit oder Trägheit bedeutet, sondern eine bewusste, maßvolle Haltung ist, die Ordnung schafft und das Gute erkennt.

Besonders deutlich grenzt sich das Gedicht von falschen Formen der Ruhe ab: Seume warnt vor stumpfer Untätigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer oder selbstzufriedener Ignoranz. Diese träge Ruhe sei nichts als „Schlafsucht“ oder gar Ausdruck von Dummheit und Herzenskälte – also das Gegenteil dessen, was echte Ruhe bewirken kann.

In den abschließenden Strophen hebt Seume die Ruhe als höchste Tugend hervor, die unabhängig von Reichtum, Status oder Lebensumständen wirkt. Sie sei im „Heiligthum der Seele“ verwurzelt, begleitet den Menschen bis in den Tod und ermöglicht ein friedliches Sterben. Das Gedicht endet in einem persönlichen Gebet: Der Sprecher bittet darum, diese letzte, wahre Ruhe zu erlangen.

Seumes „Ruhe“ ist damit nicht nur ein Lob der Gelassenheit, sondern ein philosophisch-ethisches Ideal – eine Kraft, die den Menschen zum Guten befähigt und ihn über das Chaos der Welt erhebt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.