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Der Wilde

Von

Ein Amerikaner, der Europens
Übertünchte Höflichkeit nicht kannte,
Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,
Von Kultur noch frey im Busen trug,
Brachte einst, was seines Bogens Sehne
Fern in Quebecks übereisten Wäldern
Auf der Jagd erbeutet, zum Verkaufe.
Als er ohne schlaue Rednerkünste
So wie man ihm both die Felsenvögel
Um ein kleines hingegeben hatte,
Eilt‘ er froh mit dem geringen Lohne
Heim zu seiner tiefverdeckten Horde
In die Arme seiner braunen Gattin.
Aber ferne noch von seiner Hütte
Überfiel ihn unter freiem Himmel
Schnell der schrecklichste der Regenstürme.
Aus dem langen rabenschwarzen Haare
Troff der Guß herab auf seinen Gürtel,
Und das grobe Haartuch seines Kleides
Klebte rund an seinem hagern Leibe.
Schaurig zitternd unter kaltem Regen
Eilt der gute brave wackre Wilde
In ein Haus, das er von fern erblickte.
Herr, ach laßt mich, bis der Sturm sich leget,
Bat er mit der herzlichsten Geberde
Den gesittet feinen Eigenthümer,
Hier in euerm Hause Obdach finden.
Willst du, mißgestaltes Ungeheuer,
Schrie ergrimmt der Pflanzer ihm entgegen,
Willst du Diebsgesicht mir aus dem Hause!
Und ergriff den schweren Stock im Winkel.
Traurig schritt der ehrliche Hurone
Fort von seiner unwirthbaren Schwelle,
Bis durch Sturm und Guß der späte Abend
Ihn in seine friedliche Behausung
Und zu seiner braunen Gattin brachte.
Naß und müde setzt‘ er bey dem Feuer
Sich zu seinen nackten Kleinen nieder,
Und erzählte von den bunten Städtern
Und den Kriegern, die den Donner tragen,
Und dem Regensturm, der ihn ereilte,
Und der Grausamkeit des weißen Mannes.
Schmeichelnd hingen sie an seinen Knieen,
Schlossen schmeichelnd sich um seinen Nacken,
Trockneten die langen schwarzen Haare,
Und durchsuchten seine Waidmannstasche,
Bis sie die versprochnen Schätze fanden.
Kurze Zeit darauf hatt‘ unser Pflanzer
Auf der Jagd im Walde sich verirret.
Über Stock und Stein durch Thal und Bäche
Stieg er schwer auf manchen jähen Felsen
Um sich umzusehen nach dem Pfade,
Der ihn tief in diese Wildniß brachte.
Doch sein Spähn und Rufen war vergebens;
Nichts vernahm er als das hohle Echo
Längs den hohen schwarzen Felsenwänden.
Ängstlich ging er bis zur zwölften Stunde,
Wo er an dem Fuße eines Berges
Noch ein kleines schwaches Licht erblickte.
Furcht und Freude schlug in seinem Herzen;
Er ermannte sich, und nahte leise.
Wer ist draußen? brach mit Schreckentone
Eine Stimme tief her aus der Höhle,
Und ein Mann trat aus der kleinen Wohnung.
Freund, im Walde hab‘ ich mich verirret,
Sprach der feine Europäer schmeichelnd,
Gönnet mir, die Nacht hier zuzubringen,
Und zeigt morgen früh, ich werd euch danken,
Nach der Stadt mir die gewissen Wege.
Kommt herein, versetzt der Unbekannte,
Wärmt euch; noch ist Feuer in der Hütte!
Und er führt ihn auf das Binsenlager,
Schreitet finster trotzig in den Winkel,
Holt den Rest von seinem Abendmahle,
Hummer, Lachs und frische Bärenschinken,
Um den späten Fremdling zu bewirthen.
Mit dem Hunger eines Waidmanns speiste
Festlich wie bey einem Klosterschmause
Neben seinem Wirth der Europäer,
Fest und ernsthaft schaute der Hurone
Seinem Gaste spähend auf die Stirne,
Der mit tiefem Schnitt den Schinken trennte
Und mit Wollust trank vom Honigtranke,
Den in einer großen Muschelschale
Er ihm wirthlich bei dem Male reichte.
Eine Bärenhaut auf weichem Moose
War des Pflanzers gute Lagerstätte,
Und er schlief bis in die hohe Sonne.
Wie der wilden Zone wildster Krieger
Schrecklich stand mit Köcher, Pfeil und Bogen
Der Hurone jetzt vor seinem Gaste,
Und erweckte ihn; der Europäer
Griff bestürzt nach seinem Jagdgewehre,
Und der Wilde gab ihm eine Schale,
Angefüllt mit süßem Morgentranke.
Als er lächelnd seinen Gast gelabet,
Bracht er ihn durch manche lange Windung
Über Stock und Stein, durch Thal und Bäche
Durch das Dickicht auf die rechte Straße.
Höflich dankte fein der Europäer;
Finsterblickend blieb der Wilde stehen,
Sahe starr dem Pflanzer in die Augen,
Sprach mit voller, fester, ernster Stimme:
Haben wir vielleicht uns schon gesehen?
Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger,
Und erkannte nun in seinem Wirthe
Jenen Mann, den er vor wenig Wochen
In dem Sturmwind aus dem Hause jagte,
Stammelte verwirrt Entschuldigungen.
Ruhig lächelnd sagte der Hurone:
Seht, ihr fremden klugen, weißen Leute,
Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen!
Und er schlug sich seitwärts in die Büsche.

*
Diese Erzählung habe ich, als ich selbst in Amerika und in der dortigen Gegend war, als eine wahre Geschichte gehört. Sie interessierte mich durch ihre echte reine primitive Menschengüte, die so selten durch unsere höhere Cultur gewinnt. Ob man gleich ähnliche hat, so habe ich sie hier doch nicht unterdrücken wollen.

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Gedicht: Der Wilde von Johann Gottfried Seume

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Wilde“ von Johann Gottfried Seume ist eine erzählende Dichtung, die in klarer, anschaulicher Sprache eine moralisch tiefgreifende Kontrastierung zwischen „Zivilisation“ und sogenannter „Wildheit“ entfaltet. Dabei dekonstruiert Seume das europäische Überlegenheitsgefühl, indem er die Handlung einer scheinbar einfachen Begebenheit nutzt, um wahre Menschlichkeit – jenseits von Herkunft und Kultur – sichtbar zu machen.

Im Mittelpunkt steht ein „ehrlicher Hurone“, ein indigener Amerikaner, der in die europäisch geprägte Stadt kommt, um seine Jagdbeute zu verkaufen. Trotz seines aufrichtigen Wesens und der Notlage, in die ihn ein Unwetter bringt, verweigert ihm ein europäischer Pflanzer jegliche Hilfe – nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Hochmut, Vorurteil und Grausamkeit. Seume zeichnet hier das Bild einer kalten, abweisenden „Kultur“, die hinter höflicher Fassade kaum Menschlichkeit zeigt.

Der zweite Teil der Erzählung dreht die Situation um: Der Pflanzer verirrt sich in der Wildnis und ist nun selbst auf Hilfe angewiesen. Ausgerechnet jener „Wilde“, den er zuvor verjagt hatte, nimmt ihn auf, versorgt ihn mit Nahrung und Wärme, und bringt ihn am nächsten Morgen sogar sicher zurück auf den rechten Weg – ohne ein Wort der Rache, sondern mit ruhiger, überlegener Menschlichkeit.

In der Schlüsselszene am Ende erkennt der Pflanzer seinen einst zurückgewiesenen Helfer und versucht sich verlegen zu entschuldigen. Doch der Hurone lässt keine Bitterkeit erkennen; er weist lediglich mit einem einfachen, aber schneidend klaren Satz auf die moralische Wahrheit hin: „Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen!“ – Dieser Moment macht deutlich, dass wahre Güte und Zivilisation nicht aus Herkunft, Bildung oder Kultur resultieren, sondern aus Charakter und Handlung.

Seumes Gedicht ist ein kraftvoller humanistischer Appell gegen Vorurteile und koloniale Arroganz. Es stellt dem kulturellen Dünkel Europas eine „primitive Menschengüte“ entgegen, die in ihrer stillen Würde weit über dem Verhalten der angeblich zivilisierten Welt steht. Dabei bleibt der Ton stets ruhig und sachlich – gerade diese Zurückhaltung verleiht der Erzählung ihre eindringliche Wirkung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.