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Abendlied

Von

Schon glänzt dort hoch der Abendstern;
Lob‘ ihn, mein Geist, lob‘ ihn, den Herrn!
Es sank der Sonne goldnes Licht,
Doch seine Güte sinket nicht.

Er hat von meiner Jugend auf
Geleitet meines Lebens Lauf;
Er stand mir bey, wenn von Gefahr
Ich rund umher umgeben war.

Er war mein Trost, wenn Kummer sich
Um mein bethräntes Lager schlich;
Er hörte, wenn ich schwer und tief
Aus meiner Angst um Rettung rief.

Nun sing‘ ich noch mit jeder Nacht,
Der Herr hat alles wohl gemacht:
Er schickt uns nur zu unsrer Ruh
Den bittern Kelch der Leiden zu.

Ich habe lang‘ und viel gelebt,
Und manche trübe Stunde schwebt
Noch einsam jetzt vor meinem Blick;
Doch dankbar denk‘ ich nur zurück.

Gott, sey mein Vater; steh mir bey,
Daß ich des Lebens Abend frey,
Wie ich ihn nunmehr vor mir seh,
Still, sanft und froh hinunter geh.

Laß fromm mich und von Tadel rein
Vor dir und vor den Menschen seyn,
Daß man, wenn mein Gebein einst ruht,
Noch herzlich sage, er war gut.

Laß meine Kinder, meiner werth,
Nur bleiben, wie ich sie gelehrt,
Sich deiner und der Tugend freun;
So ist ihr Erbtheil nicht mehr klein.

So wall‘ ich ruhig, wie ich bin,
Zum stillen großen Schlafe hin,
Wo schlummerschwer mein Auge sinkt,
Wenn mir der Tod, dein Bothe, winkt.

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Gedicht: Abendlied von Johann Gottfried Seume

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Abendlied“ von Johann Gottfried Seume ist ein tief religiöses, von stiller Dankbarkeit getragenes Altersgedicht, das den Rückblick auf ein langes Leben mit dem Ausblick auf einen friedlichen Tod verbindet. In einfachen, klaren Versen entfaltet Seume ein Bild des Lebensabends, das von Vertrauen in Gott, innerem Frieden und moralischer Bescheidenheit geprägt ist.

Gleich zu Beginn wird der Abendstern zum Symbol des nahenden Lebensendes, aber auch zur Mahnung, den Schöpfer zu loben. Die untergehende Sonne – traditionell ein Bild für das Altern – steht im Kontrast zu Gottes bleibender Güte, die der Sprecher aus eigener Erfahrung bezeugt. Rückblickend erkennt das lyrische Ich in allen Phasen seines Lebens göttliche Führung: in Gefahren, in Leid, aber auch in Trost und Erhörung.

Dabei zeigt sich eine Haltung, die nicht klagt, sondern annimmt. Der „bittern Kelch der Leiden“ wird als Teil von Gottes Fürsorge verstanden, als Mittel zur inneren Reifung. Die Dankbarkeit dominiert: Auch wenn „manche trübe Stunde“ noch gegenwärtig ist, überwiegt die Zufriedenheit mit dem Erlebten. Dieser Rückblick wird getragen von einem moralischen Ideal – der Wunsch, in Gottes Augen wie in den Augen der Menschen „von Tadel rein“ zu leben, ist Ausdruck eines inneren Anspruchs an Güte und Redlichkeit.

Zugleich denkt das lyrische Ich über den Tod hinaus an seine Kinder. Es wünscht ihnen nichts Materielles, sondern die Bewahrung dessen, was er ihnen an Glauben und Tugend mitgegeben hat. Auch hier steht nicht das eigene Ich im Zentrum, sondern die Sorge um das sittliche Fortbestehen der Werte.

Der Schluss ist ein ruhiger Übergang ins Sterben: Der Tod erscheint nicht als Schrecken, sondern als Gottes Bote, der das Auge „schlummerschwer“ zum Schlaf senkt. Das Gedicht ist so nicht nur ein persönliches Gebet, sondern auch ein poetisches Vermächtnis – Ausdruck einer Haltung, die Gelassenheit, Gottvertrauen und ethische Klarheit zu einer stillen, würdigen Lebensbilanz verbindet.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.