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Amor und Psyche auf einem Grabmal

Von

Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir
Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissen’s nicht) in Mitte
Der Ewigkeit.

Nach manchem voller Müh und Sehnen
Verseufzten Jahr
Umarmte sich in frohen Thränen
Ein liebend Paar.
Der Mond sah freundlich auf sie nieder;
Ein zarter Ton
Aus allen Büschen hallte wider:
„Endymion!

Ach, daß uns ewig, ewig bliebe
Der Augenblick!
Im ersten holden Kuß der Liebe,
Das reinste Glück!“
Verstummend, halbvollendet weilte
Das süße Wort;
Die Seel‘ auf Beider Lippen eilte,
Sie eilte fort.

Denn sieh, ein Engel schwebte nieder
Zu ihrem Kuß
(Gold, himmelblau war sein Gefieder),
Ihr Genius.
Berührend sie mit sanftem Stabe,
Sprach er: „Erhört
Ist Euer Wunsch. Dort überm Grabe
Liebt ungestört!“

Entschwungen auf dem Hauch der Liebe,
Im reinsten Glück,
Gewiß, daß ihnen ewig bliebe
Der Augenblick,
Auf amaranthnen Auen schwebte
Das holde Paar
Mit Allem, was je liebt‘ und lebte
Und glücklich war.

Mit Allem, was in Wunsch und Glauben
Sich je erfreut,
Genossen sie in vollen Trauben
Unsterblichkeit.
Des Weltalls süße Symphonieen
Umtönten sie;
Der Liebe süße Harmonieen
Durchwallten sie.

„Wollt Ihr zurück in jene Ferne
Auf Euer Grab?“
Sie sahn vom Himmel goldner Sterne
Zur Erd‘ hinab.
„O Genius, die Zeit danieden
Ist träge Zeit;
Ein Augenblick hier giebt uns Frieden
Der Ewigkeit.“

Sahst Du auf jenem Grabeshügel
Die Liebenden?
Der erste Kuß gab ihnen Flügel,
Den Seligen.
Und daß ein Bild von ihnen bliebe
Im ew’gen Kuß,
Verewigte hier Seel‘ und Liebe
Der Genius.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Amor und Psyche auf einem Grabmal von Johann Gottfried Herder

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Amor und Psyche auf einem Grabmal“ von Johann Gottfried Herder greift das Thema der vergänglichen Liebe auf und stellt sie in den Kontext von Unsterblichkeit und Ewigkeit. Zu Beginn beschreibt der Dichter das Leben als einen flüchtigen „Traum“, der in seiner Vergänglichkeit mit „Schatten auf den Wogen“ verglichen wird. Diese Metapher betont die Unbeständigkeit menschlicher Existenz und die Tatsache, dass der Mensch im Kreis von Raum und Zeit wandelt, ohne sich der „Mitte der Ewigkeit“ bewusst zu sein. Diese Vorstellung setzt sich mit der philosophischen Idee auseinander, dass das menschliche Leben nur ein kleiner Moment im Vergleich zur Ewigkeit ist.

Der zweite Teil des Gedichts stellt ein liebendes Paar dar, das nach jahrelanger Mühe und Sehnsucht in einem Moment der Glückseligkeit zusammenkommt. Der Mond und die Natur, die „freundlich auf sie nieder[sehen]“, verstärken das Bild der Harmonie zwischen den Liebenden. Der Name „Endymion“, der hier aus der griechischen Mythologie entnommen wird, verweist auf die unerreichbare, aber ewige Liebe und den göttlichen Segen, den das Paar in seinem Zusammensein erfährt. Der Wunsch nach einem ewigen Augenblick der Liebe, der „im ersten holden Kuß“ gipfelt, spiegelt das Streben nach einem vollkommenen und unvergänglichen Glück wider.

Doch dieser Moment ist nur von kurzer Dauer. Die Erzählerfigur spricht von einem Engel, der mit „sanftem Stabe“ den Liebenden erscheint und sie mit der Nachricht beglückt, dass ihr Wunsch nach ewigem Glück erfüllt wird. Der Engel symbolisiert den Genius oder die göttliche Kraft, die die Liebenden in eine überirdische Existenz führt, in der sie für immer vereint bleiben können. Die Bilder von „amaranthnen Auen“ und „unsterblichem Glück“ verdeutlichen, dass die Liebe der beiden über den Tod hinaus fortbesteht und sie in einer himmlischen Sphäre weiterhin glücklich vereint sind.

Am Ende des Gedichts wird der Kreis des Lebens geschlossen: Das Paar blickt auf ihr irdisches Grab hinab und wünscht sich, in dieser überirdischen Liebe zu verweilen. Der „Genius“ fragt, ob sie in die ferne Welt zurückkehren wollen, und die Antwort der Liebenden betont die Erfüllung in ihrer himmlischen Existenz, die ihnen mehr Frieden und Glück bringt als die „träge Zeit“ auf der Erde. Das Gedicht endet mit der Verewigung der Liebe und der Seelen der beiden in einem „ewigen Kuß“, der auf dem Grabmal dargestellt wird. Dies vermittelt die Idee, dass wahre Liebe unsterblich ist und in ihrer reinsten Form über den Tod hinaus fortbesteht, sowohl im Gedächtnis der Menschen als auch in der göttlichen Sphäre.

Insgesamt kombiniert Herder in diesem Gedicht Elemente der Mythologie, des romantischen Idealismus und der christlichen Vorstellung von Ewigkeit, um die unsterbliche Kraft der Liebe und ihre Überwindung der Zeit und des Todes darzustellen. Es ist ein Gedicht über die Schönheit und das Streben nach einer vollkommenen, überzeitlichen Vereinigung, die durch die Verewigung der Liebenden in der Ewigkeit realisiert wird.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.