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Abendlied

Von

Und wenn sich einst die Seele schließt
Wie diese Abendblume;
Wenn Alles um sie Dämmrung ist
Von Lebens Licht und Ruhme,
Und ihre letzten Blick‘ umher
Ihr kalte Schatten scheinen:
O Jüngling, wirst Du auch so schwer
Wie diese Blume weinen?

War Deiner holden Jugend Saft
In öde Luft verhauchet,
Verblüht die Blüthe, Lebenskraft
Auf immer mißgebrauchet,
Und Deine letzten Blick‘ umher
Dich alle reuentfärben:
O Jüngling, bleibt Dir etwas mehr,
Als trostverschmachtet sterben?

Macht Seine große Allmacht je
Geschehnes ungeschehen?
Und stillt sie auch das tiefe Weh,
Sich selbst beschämt zu sehen?
Und wächst und wächst nicht jeder That
Der Keim so tief verborgen?
Wer giebt, wer schafft mir neuen Rath,
Noch einen Jugendmorgen?

Und, holder Schlaf, den schaffest Du,
Giebst neuen Jugendmorgen,
Bist Labetrunk und Schattenruh,
Bist Labsal aller Sorgen,
Bist Todesbruder! O wie schön
Sich Sein und Nichtsein grenzen!
Wie frisch wird meine Abendthrän‘
Am frühen Morgen glänzen!

Und nach dem Tod – es wird uns sein
Als nach des Rausches Schlummer:
Verrauscht, verschlummert Lebenspein
Und Schmerz und Reu und Kummer.
O Tod, o Schlaf, der Dich erfand,
Erfand der Menschheit Segen;
Breit‘ aus auf mich Dein Schlafgewand,
Zur Ruhe mich zu legen!

Denn was wär‘ unsre Lebenszeit,
Auch unsre Zeit der Freuden?
Ein Strudel von Mühseligkeit,
Ein Wirbel süßer Leiden,
Ein ew’ger Taumel! Holder Schlaf,
Zu neuem Freudenmahle
Für Alles, was auch heut mich traf,
Gieb mir die Labeschale!

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Gedicht: Abendlied von Johann Gottfried Herder

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Abendlied“ von Johann Gottfried Herder behandelt die Themen des Lebens, des Alterns, des Todes und der Erlösung durch den Schlaf, wobei der Abend als Metapher für den Lebensabend dient. Zu Beginn wird die Seele mit einer „Abendblume“ verglichen, die sich langsam schließt, wenn das Leben und der Ruhm vergehen. Die Frage, ob der „Jüngling“ (symbolisch für den jungen Menschen) ebenso schwer weinen wird, wenn er sich seinem Lebensende nähert, spiegelt die Existenzangst und das Unvermeidliche des Todes wider. Die „kalten Schatten“ und die „Dämmrung“ verdeutlichen die dunkle und ungewisse Zeit, die das Lebensende begleitet.

Im zweiten Teil des Gedichts wird das Verblühen der Jugend und die Vergeudung der Lebenskraft thematisiert. Der „Saft“ der Jugend wird in „öde Luft verhauchet“, was auf die Entfremdung und das Scheitern von Lebenszielen hinweist. Die Enttäuschung über das Verschwinden von Lebensenergie und die Entfremdung von der eigenen Vergangenheit werden durch das Bild der verblühten Blüte und der verbrauchten Lebenskräfte verstärkt. Der „Jüngling“ wird gefragt, ob ihm mehr bleibt, als „trostverschmachtet zu sterben“, was die Frage nach der Bedeutung des Lebens und der Möglichkeit einer Erlösung aufwirft.

Der Gedichtabschnitt mit der Frage, ob die „große Allmacht“ Geschehendes ungeschehen machen kann, verweist auf den Wunsch nach einer Umkehr der vergangenen Fehler und den tiefen Schmerz, den diese Fehler verursacht haben. Herder stellt fest, dass jede Handlung ihren „Keim so tief verborgen“ trägt und fragt, ob es jemals eine Möglichkeit der Rückkehr oder der Wiedergutmachung gibt. In dieser tiefen Verzweiflung sucht der Erzähler nach einem „neuen Jugendmorgen“, einer Möglichkeit des Neuanfangs und der Hoffnung, die in der Unmöglichkeit des Zurückdrehens der Zeit verborgen bleibt.

Die Lösung für die dargestellten Qualen und das Verlangen nach Erlösung findet der Erzähler im Schlaf. Schlaf wird als „Todesbruder“ bezeichnet, was auf die enge Verbindung zwischen Schlaf und Tod hinweist – eine Ruhe, die sowohl als Erholung als auch als Überführung in eine andere Existenzform verstanden wird. Der „Schlaf“ gibt den „neuen Jugendmorgen“ und ist ein Trost, der alle Sorgen, Reue und Schmerzen beseitigt. Der Erzähler wünscht sich, in den Schlaf zu sinken, da dieser eine Art Erlösung von der „Mühseligkeit“ und den „süßen Leiden“ des Lebens darstellt.

Am Ende des Gedichts wird der Tod als eine Form des „Segen[s]“ beschrieben, ein Erlöser, der uns von der endlosen „Mühseligkeit“ des Lebens befreit und uns zu einem endgültigen Frieden führt. Der Wunsch, in den Schlaf des Todes einzutreten, wird als der einzige Weg gesehen, den ewigen „Taumel“ des Lebens zu beenden und wahre Ruhe und Erneuerung zu finden. Das Gedicht drückt eine tiefgehende Sehnsucht nach dem Ende des Leidens und der Ruhe des Schlafes und des Todes aus, die als die wahre Erlösung vom Schmerz des Lebens angesehen werden.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.