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Wirrsal

Von

Denn immer wieder steigt von Zeit zu Zeit
Das Glück zu hoch und sackt das Leid zu tief.
Und dann: erwacht,
Was man gewaltsam totgemacht
Oder was kraftlos dumpfe Unwahrscheinlichkeiten schlief.

Und Kugeln müssen singen durch die Nacht;
Und nichts in ihrer Bahn soll leben bleiben.
Und was die Menschen sagen oder schreiben,
Soll offenkundig Lüge sein.
Und eine Zeitlang herrsche Nichts und Nein,
Und beuge sich der Vater vor dem Sohn.
Revolution!

Damit wir alle neu und weiter leiden,
Noch einige die wenigen beneiden,
Die dann so stark und unabhängig sind,
Dass sie zum Beispiel sich vor einem Kind
Ganz plötzlich – oder sich vor grünen Zweigen
Oder vor einem Esel – tief verneigen.

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Gedicht: Wirrsal von Joachim Ringelnatz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Wirrsal“ von Joachim Ringelnatz beschreibt in düsteren und zugleich eindrucksvollen Bildern die ewigen Zyklen von Aufstieg und Fall im menschlichen Leben. Gleich zu Beginn stellt Ringelnatz fest, dass Glück und Leid sich ständig ablösen, wobei Extreme unausweichlich erscheinen. Was einmal unterdrückt oder vergessen wurde, bricht in Zeiten der Krise plötzlich wieder hervor – eine Anspielung auf die Unkontrollierbarkeit menschlicher Entwicklungen.

Die zweite Strophe zeichnet ein apokalyptisches Bild: Kugeln fliegen durch die Nacht, das Leben wird ausgelöscht, Wahrheit wird zur Lüge. Ringelnatz beschreibt eine Welt, in der moralische und gesellschaftliche Werte zerfallen. Die Umkehr der natürlichen Ordnung, in der der Vater sich vor dem Sohn beugt, mündet in der radikalen Forderung nach „Revolution“ – nicht als hehre Befreiung, sondern als chaotische, gewaltsame Umwälzung.

Doch auch diese Revolution bringt keine endgültige Erlösung. Stattdessen prophezeit das Gedicht weiteres Leiden, Missgunst und soziale Ungleichheit. Ringelnatz zeigt damit eine tiefe Skepsis gegenüber der Idee, dass Umstürze automatisch zu einer besseren Welt führen könnten. Es bleibt ein bitterer Kreislauf von Hoffnung, Gewalt und erneuter Enttäuschung.

Trotz der düsteren Grundstimmung lässt das Gedicht am Ende eine feine, fast paradoxe Hoffnung aufscheinen: eine tiefe Ehrfurcht vor der Einfachheit – vor einem Kind, einem grünen Zweig oder einem Esel. In diesen schlichten Bildern liegt vielleicht die einzige echte, unzerstörbare Würde und Wahrhaftigkeit, die über Chaos und Zerstörung hinaus bestehen kann.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.