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Silvester

Von

Dass bald das neue Jahr beginnt,
Spür ich nicht im geringsten.
Ich merke nur: Die Zeit verrinnt
Genauso wie zu Pfingsten,

Genau wie jährlich tausendmal.
Doch Volk will Griff und Daten.
Ich höre Rührung, Suff, Skandal,
Ich speise Hasenbraten.

Mit Cumberland, und vis-à-vis
Sitzt von den Krankenschwestern
Die sinnlichste. Ich kenne sie
Gut, wenn auch erst seit gestern.

Champagner drängt, lügt und spricht wahr.
Prosit, barmherzige Schwester!
Auf! In mein Bett! Und prost Neujahr!
Rasch! Prosit! Prost Silvester!

Die Zeit verrinnt. Die Spinne spinnt
In heimlichen Geweben.
Wenn heute nacht ein Jahr beginnt,
Beginnt ein neues Leben.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Silvester von Joachim Ringelnatz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Silvester“ von Joachim Ringelnatz beschreibt mit lakonischem Humor und leichter Melancholie die Silvesternacht als ein äußerlich bedeutungsschweres, innerlich jedoch routiniertes Ereignis. Der Sprecher zeigt sich unbeeindruckt vom symbolischen Jahreswechsel: Für ihn verrinnt die Zeit an Silvester ebenso gleichförmig wie zu anderen Gelegenheiten. Damit stellt Ringelnatz die allgemeine Erwartung eines Neuanfangs in Frage.

Trotz dieser nüchternen Haltung wird die Szenerie typisch für Silvester lebendig: Feier, Alkohol, ausgelassene Stimmung und zufällige Begegnungen prägen das Bild. Besonders die Episode mit der Krankenschwester, die erst seit kurzem bekannt ist und nun zum Gegenstand einer impulsiven Avance wird, veranschaulicht die Mischung aus Sehnsucht, Trunkenheit und Vergänglichkeit, die der Jahreswechsel oft mit sich bringt.

Ringelnatz setzt einfache, direkte Sprache und Reime ein, die die Leichtigkeit der Erzählung unterstützen. Durch die wiederholte Erwähnung von Trinksprüchen wie „Prosit“ und das lockere, fast gehetzte Tempo der letzten Strophen vermittelt er ein Bild von Überschwang, das jedoch nie ganz die darunterliegende Ahnung von Zeitverfall überdecken kann. Besonders die letzten Verse mit dem Bild der Spinne, die heimlich ihre Gewebe spinnt, schlagen eine ernste, fast existenzielle Note an.

Am Ende bleibt ein doppelter Eindruck: Einerseits die flüchtige Euphorie des Moments, andererseits das stille Bewusstsein, dass das neue Jahr letztlich nichts an der Vergänglichkeit des Lebens ändert. Das Gedicht balanciert so gekonnt zwischen Spott über konventionelle Silvestergefühle und einer tiefen, melancholischen Reflexion über die Zeit. Möchtest du dazu noch eine kurze Deutung der Symbolik der Spinne?

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.