Ein Strolch sieht spielende Kinder
Die kleinen Kinder sind so groß.
Sie umarmen sonnigen Sand.
Mir geben sie einfach einen Stoß.
Und greifen nach einer Frauenhand.
Sie jauchzen ohne Scham und Verstand
Nackt in eines Fräuleins Schoß.
Soll ich sie nach dem Wege fragen,
Weil ich mich nicht an Erwachsne getrau.
Sie wissen mir doch nichts zu sagen,
Zeigen mir nur ein fremdes Geschau,
Wie – Seehunde unter Menschen verschlagen.
Die Kinder sind so groß. Ich bin klein.
Sie sind so sauber; ich bin ein Schwein.
Ich suche Arbeit und Geld und Bett.
Sie wollen nur ins Freie.
Wenn ich Kinder – oder eine Mutter hätt‘ –
Wie sie es schreien, ihr Ringelreihe!
Wer möchte ihnen das Spiel verderben.
Aber doch: Jetzt – so – müssten sie sterben.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ein Strolch sieht spielende Kinder“ von Joachim Ringelnatz erzählt aus der Perspektive eines gesellschaftlich Ausgestoßenen, der mit bitterer Wehmut auf das unbeschwerte Spiel von Kindern blickt. Schon in der ersten Zeile wird die Diskrepanz zwischen seiner eigenen inneren Verfassung und der kindlichen Welt deutlich: Die Kinder erscheinen ihm „so groß“, während er selbst sich klein und bedeutungslos fühlt.
Der Strolch empfindet eine tiefe Entfremdung von der Reinheit und Lebensfreude der Kinder. Ihre Unbekümmertheit, ihr physisches Glücklichsein im Spiel kontrastiert scharf mit seiner eigenen Realität, die von Armut, Scham und Perspektivlosigkeit geprägt ist. Während die Kinder nach Freiheit streben, ist sein Leben von der Suche nach grundlegenden Dingen wie Arbeit, Geld und Unterkunft bestimmt.
Die Entfremdung geht so weit, dass er die Kinder nicht einmal als Wegweiser begreifen kann: Sie sind für ihn ebenso unerreichbar und fremd wie Seehunde unter Menschen. Ihre Reinheit und Lebensfreude stehen in einem schmerzhaften Gegensatz zu seiner inneren wie äußeren Verkommenheit, die er offen eingesteht („ich bin ein Schwein“).
Im Schluss des Gedichts kulminieren Verzweiflung und Neid in einer schockierenden Wendung: Der Strolch wünscht sich, die Kinder könnten aufhören zu leben, um ihn nicht weiter an das zu erinnern, was er verloren oder nie besessen hat. Diese brutale Fantasie offenbart die düstere Tragik eines Menschen, der von der Welt ausgeschlossen ist und selbst die Unschuld nicht mehr erträgt. Ringelnatz zeichnet hier ein beklemmendes Bild sozialer Kälte und innerer Zerrissenheit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.