Ehrgeiz
Ich habe meinen Soldaten aus Blei
Als Kind Verdienstkreuzchen eingeritzt.
Mir selber ging alle Ehre vorbei,
Bis auf zwei Orden, die jeder besitzt.
Und ich pfeife durchaus nicht auf Ehre.
Im Gegenteil. Mein Ideal wäre,
Dass man nach meinem Tod (grano salis)
Ein Gässchen nach mir benennt, ein ganz schmales
Und krummes Gässchen, mit niedrigen Türchen,
Mit steilen Treppchen und feilen Hürchen,
Mit Schatten und schiefen Fensterluken.
Dort würde ich spuken.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ehrgeiz“ von Joachim Ringelnatz reflektiert auf humorvolle und zugleich nachdenkliche Weise das Thema Ruhm und Nachruhm. In typisch ringelnatzscher Manier wird das große Wort „Ehre“ ironisch gebrochen, ohne es gänzlich abzulehnen. Der Sprecher zeigt sich zunächst bescheiden, fast resigniert – und offenbart im Verlauf des Gedichts dennoch ein sehr eigenes, schräges Ideal von posthumer Anerkennung.
In der ersten Strophe blickt das lyrische Ich auf seine Kindheit zurück: Schon damals wurde der Wunsch nach Ehre spielerisch ausgelebt, indem man den Spielzeugsoldaten Orden einritzte. Im Kontrast dazu steht die eigene Lebensbilanz: „Mir selber ging alle Ehre vorbei“ – eine nüchterne Feststellung, die andeutet, dass der Sprecher nie besondere Auszeichnungen oder gesellschaftliche Anerkennung erfahren hat. Der Verweis auf die „zwei Orden, die jeder besitzt“ – vermutlich ironisch gemeint als Hunger und Tod oder ähnliche existenzielle Konstanten – verstärkt den sarkastischen Unterton.
Doch der zweite Teil des Gedichts enthüllt eine feinsinnige Wendung: Der Sprecher „pfeift“ nicht auf Ehre – im Gegenteil, er hat einen ganz eigenen Traum von Nachruhm. Allerdings wünscht er sich kein Denkmal oder eine große Straße, sondern ein „ganz schmales und krummes Gässchen“ mit schäbigem, fast verwunschenem Charakter. Diese bewusste Abkehr vom Heroischen zugunsten des Schrulligen, Abseitigen zeigt den typischen Humor und die Bescheidenheit von Ringelnatz.
Die detaillierte Beschreibung des Gässchens mit „niedrigen Türchen“, „steilen Treppchen“ und „feilen Hürchen“ malt ein versponnenes, halb groteskes Bild eines Ortes, der wenig mit Ruhm im klassischen Sinne zu tun hat. Und doch liegt darin eine liebevolle Vorstellung vom Weiterleben in Erinnerung – als Spukgestalt in einem Ort, der dem eigenen Wesen entspricht: schräg, menschlich, und ein wenig melancholisch. So wird „Ehrgeiz“ zu einer ironischen, aber zugleich tiefgründigen Auseinandersetzung mit der Sehnsucht, Spuren zu hinterlassen – auf eigene Art und mit einem Augenzwinkern.
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Lizenz und Verwendung
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