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Abendgebet einer erkälteten Negerin

Von

Ich suche Sternengefunkel.
Sonne brennt mich dunkel.
Sonne drohet mit Stich.
Warum brennt mich die Sonne im Zorn?
Warum brennt sie gerade mich?
Warum nicht Korn?
Ich folge weißen Mannes Spur.
Der Mann war weiß und roch so gut.
Mir ist in meiner Muschelschnur
So neglige zu Mut.
Kam in mein Wigwam
Weit über das Meer,
Seit er zurückschwamm,
Das Wigwam
Blieb leer.
Drüben am Walde
Kängt ein Guruh —
Warte nur balde
Kängurst auch du.


Disclaimer: Historische Einordnung

Dieses Gedicht entstand in einer früheren historischen Epoche und enthält Begriffe oder Darstellungen, die aus heutiger Sicht als diskriminierend, verletzend oder nicht mehr zeitgemäß gelten. Die Veröffentlichung erfolgt ausschließlich zu literatur- und kulturhistorischen Zwecken sowie zur Förderung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text und seiner Zeit. Die problematischen Inhalte spiegeln nicht die heutige Haltung der Herausgeber wider, sondern sind Teil des historischen Kontextes, der zur Reflexion über den Wandel von Sprache, Werten und gesellschaftlichen Normen anregen soll.


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Gedicht: Abendgebet einer erkälteten Negerin von Joachim Ringelnatz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Abendgebet einer erkälteten Negerin“ von Joachim Ringelnatz ist ein humorvolles, gleichzeitig aber auch tiefgründiges Werk, das die Perspektive einer afrikanischen Frau in einer fremden Welt darstellt. Die Sprecherin, die an einer Erkältung leidet, ruft in einer Mischung aus Erstaunen, Frustration und Zynismus nach den Sternen und der Sonne. Die ersten Zeilen zeigen eine unbefriedigte Suche nach etwas Helligem und Funkelndem („Sternengefunkel“), wobei die Sonne in ihrer intensiven Hitze und ihrem „Zorn“ als bedrohlich empfunden wird. Das Bild der Sonne, die „mit Stich drohet“, könnte eine Metapher für die harten Bedingungen oder den Schmerz darstellen, den sie in ihrer Umgebung erfährt. Die Frage, warum „gerade mich“ die Sonne „brennt“, stellt einen existenziellen Konflikt dar, der auf ein ungerechtes Schicksal hinweist – warum trifft das Unglück oder die Belastung sie und nicht etwa das „Korn“, das als neutrales, unbelebtes Objekt im Vergleich zur sprechenden Person steht?

Im weiteren Verlauf des Gedichts wird die Figur des „weißen Mannes“ eingeführt, der die Sprecherin in ihrem „Wigwam“ (einer Hütte, symbolisch für ein traditionelles Zuhause) besucht hat. Der „weiße Mann“ ist eine Figur, die in vielerlei Hinsicht als Symbol für die Kolonialmacht und die Fremdheit der westlichen Welt verstanden werden kann. Die „weiße“ Farbe und der „gute“ Geruch des Mannes lassen ihn als jemanden erscheinen, der zunächst eine positive Assoziation erweckt. Doch die Sprecherin erfährt eine Art von Enttäuschung oder Verlassenheit, da das „Wigwam“ nach seiner Abreise leer bleibt. Dies deutet auf den Verlust von etwas oder jemanden hin, der für sie zuvor Bedeutung hatte, aber nun auf einer emotionalen Ebene nicht mehr greifbar ist.

Am Ende des Gedichts tritt eine Wendung ein: „Drüben am Walde / Kängt ein Guruh — / Warte nur balde / Kängurst auch du.“ Hier wird eine humorvolle und fast absurde Vorstellung aufgebaut. Der „Guruh“ (vermutlich eine humorvolle Verzerrung des „Kängurus“) ist eine seltsame, fremdartige Kreatur, die gleichzeitig eine Art von Erwartung oder Bedrohung impliziert, wobei der „Kängurst“ als unbestimmte Zukunftsvision eine Art Versprechen darstellt. Diese unzusammenhängenden Bilder erzeugen einen surrealen und absurden Effekt, der die Unklarheit und Verwirrung widerspiegelt, die die Sprecherin in ihrer eigenen Realität empfindet.

Das Gedicht enthält scharfe gesellschaftliche und kulturelle Anspielungen, wobei Ringelnatz sowohl eine spielerische als auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und den damit verbundenen Erfahrungen darstellt. Die Mischung aus humoristischen, absurden Elementen und tiefgründigen Fragen zur Identität und dem Erleben von Fremdheit verleiht dem Gedicht eine besondere Komplexität. Es thematisiert sowohl die Unverständlichkeit als auch die Entfremdung der „anderen Welt“ und lässt uns mit der unvollständigen, oft widersprüchlichen Wahrnehmung der Sprecherin zurück.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.