Angst, Emotionen & Gefühle, Gemeinfrei, Götter, Heimat & Identität, Heldenmut, Himmel & Wolken, Jahreszeiten, Leichtigkeit, Leidenschaft, Liebe & Romantik, Märchen & Fantasie, Sommer, Unschuld, Wut, Zerstörung
Karthago
Der eherne Stier speit Flammen. Durchs offene Tempeldach
Blitzern die Strahlen der Sonne.
Männer mit offenen Armen beten.
Einer verschwand in dem krachenden dampfenden ehernen Maul –
Knabenmänner, die zum Tanz sich drehten.
O blaue Tage, Tage der blutigen Rosen,
Wo die bewaffneten Kähne die ewig bewegliche See durchschnitten.
Tage des Opfers und menschenmordender Bitten.
Wo die beschnittenen Priester mit sanft gleitenden Schritten
In den Winkeln der Gärten mit Frauen kosen
Als Weib mit dem Weibe.
Und es zittern und klirren die Goldgeschmeide
Am heiligen Leibe.
Tage der purpurnen Sonnenstrahlen.
Tage der Glut in der steinernen Stadt.
Tage der Liebe und Tage der Qualen.
Tage der Glut in der steinernen Stadt.
Über der blau donnernden Flut unermüdlicher Meere
Droht dir der Tod.
Hoch am Himmel steht der Komet bluteiternd und rot,
Ein Schwert, das die Leiber verzehrt,
Ein Drache der Wut.
Blut bedeutet das träumende Licht in den Straßen,
Vernichtung und Blut.
Umsonst heult der eherne Stier mit feurigem Schlunde,
Eure Töchter und Söhne verbrennt ihr im grässlichen Feuer vergebens.
Horch, es klingt der gläserne Tod durch die wüste Stunde.
Und es erstarrt im Mittagswunder der Traum und die Kraft eures Lebens.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Karthago“ von Jakob van Hoddis ist ein düsteres, bildgewaltiges und expressionistisches Panorama der antiken Stadt, die als Symbol für Untergang, Gewalt und sinnliche Exzesse steht. Der „eherne Stier“, ein grausames Opfergerät, das Flammen speit, bildet gleich zu Beginn ein grausames Zentrum des Geschehens – ein Symbol für brutale Opferkulte. Die Szenerie ist geprägt von religiöser Ekstase und archaischer Gewalt, als „einer verschwand in dem krachenden dampfenden ehernen Maul“.
Die folgenden Strophen beschreiben eine ambivalente Welt aus „blauen Tagen“ voller „blutiger Rosen“. Es ist eine Zeit der Widersprüche, in der Schönheit und Gewalt, Liebe und Vernichtung nebeneinander existieren. Die „bewaffneten Kähne“ und „menschenmordenden Bitten“ zeigen eine Kultur, die im Bann von Krieg und Opferritualen steht. Gleichzeitig schildert Hoddis Szenen von priesterlicher Sinnlichkeit, etwa wenn „beschnittene Priester“ in Gärten mit Frauen „kosen“. Auch hier werden die Motive von Religion, Erotik und Macht untrennbar miteinander verflochten.
Die ständige Wiederholung von „Tage der Glut in der steinernen Stadt“ verstärkt die Beklemmung und das apokalyptische Gefühl. Die Stadt Karthago erscheint als Ort, an dem Leidenschaft und Gewalt untrennbar verschmelzen. Das Bild des „Kometen“, der „bluteiternd und rot“ am Himmel steht, kündigt eine Katastrophe an. Der Komet, wie ein „Schwert“ oder „Drache der Wut“, symbolisiert den drohenden Untergang und das Unheil, das über der Stadt schwebt.
Im letzten Abschnitt kulminiert die Untergangsstimmung: Blut wird zur allgegenwärtigen Farbe des Lichts in den Straßen, der Tod „klingt“ fast wie ein gläsernes Echo durch die „wüste Stunde“. Die grausamen Opferungen im „grässlichen Feuer“ erscheinen vergebens, denn der Traum und die Lebenskraft Karthagos „erstarren“ im „Mittagswunder“. Hoddis zeichnet ein expressionistisches Untergangsbild, das die Themen Dekadenz, Gewalt, religiösen Fanatismus und Vergeblichkeit in einem eindrucksvollen, dunklen Mythos von Karthago zusammenführt.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.