Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , ,

Der Todesengel

Von

1.

Mit Trommelwirbeln geht der Hochzeitszug,
In seidner Sänfte wird die Braut getragen,
Durch rote Wolken weißer Rosse Flug,
Die ungeduldig goldne Zäume nagen.

Der Todesengel harrt in Himmelshallen
Als wüster Freier dieser zarten Braut.
Und seine wilden, dunklen Haare fallen
Die Stirn hinab, auf der der Morgen graut.

Die Augen weit, vor Mitleid glühend offen
Wie trostlos starrend hin zu neuer Lust,
Ein grauenvolles, nie versiegtes Hoffen,
Ein Traum von Tagen, die er nie gewusst.

2.

Er kommt aus einer Höhle, wo ein Knabe
Ihn als Geliebte wunderzart umfing.
Er flog durch seinen Traum als Schmetterling
Und ließ ihn Meere sehn als Morgengabe.

Und Lüfte Indiens, wo an Fiebertagen
Das greise Meer in gelbe Buchten rennt.
Die Tempel, wo die Priester Zimbeln schlagen,
Um Öfen tanzend, wo ein Mädchen brennt.

Sie schluchzt nur leise, denn der Schar Gesinge
Zeigt ihr den Götzen, der auf Wolken thront
Und Totenschädel trägt als Schenkelringe,
Der Flammenqual mit schwarzen Küssen lohnt.

Betrunkne tanzen nackend zwischen Degen,
Und einer stößt sich in die Brust und fällt.
Und während blutig sich die Schenkel regen,
Versinkt dem Knaben Tempel, Traum und Welt.

3.

Dann flog er hin zu einem alten Manne
Und kam ans Bett als grüner Papagei.
Und krächzt das Lied: „O schmähliche Susanne!“
Die längst vergessne Jugendlitanei.

Der stiert ihn an. Aus Augen glasig blöde
Blitzt noch ein Strahl. Ein letztes böses Lächeln
Zuckt um das zahnlose Maul. Des Zimmers Öde
Erschüttert jäh ein lautes Todesröcheln.

4.

Die Braut friert leise unterm leichten Kleide.
Der Engel schweigt. Die Lüfte ziehn wie krank.
Er stürzt auf seine Knie. Nun zittern beide.
Vom Strahl der Liebe, der aus Himmeln drang.
Posaunenschall und dunkler Donner lachen.

Ein Schleier überflog das Morgenrot.
Als sie mit ihrer zärtlichen und schwachen
Bewegung ihm den Mund zum Küssen bot.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Todesengel von Jakob van Hoddis

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Todesengel“ von Jakob van Hoddis ist ein vielschichtiges, düsteres und zugleich faszinierendes Werk, das den Tod in Form eines Engels als ambivalente Figur zeigt: als Liebhaber, Verführer und Erlöser zugleich. In der ersten Strophe wird eine Braut in einem prunkvollen Hochzeitszug beschrieben, doch die festliche Szenerie kippt schnell ins Unheilvolle. Der „Todesengel“ wartet auf sie, nicht als romantischer Bräutigam, sondern als dunkler, mitleidiger und von einer tragischen Sehnsucht gezeichneter Freier. Sein Antlitz und seine „weiten Augen“ zeigen ein „grauenvolles Hoffen“ – ein Paradoxon aus Liebe und Todesahnung.

Im zweiten Abschnitt erfährt der Todesengel eine symbolisch-mystische Herkunft: Er erscheint zunächst als Geliebte eines Knaben, dann als Schmetterling in dessen Traum. Die beschriebenen Szenen – von indischen Tempeln bis hin zu grausamen Opferritualen – lassen eine surreale, weltumspannende Dimension erkennen, in der Gewalt, Ekstase und religiöse Riten miteinander verschmelzen. Der Tod wird als allgegenwärtiges Prinzip inszeniert, das sowohl mit Verführung als auch mit Leid und Wahnsinn verbunden ist. Die ekstatischen und blutigen Bilder vom Tempeltanz und der Selbsttötung eines Tänzers steigern die düstere Atmosphäre und führen in eine Welt voller Tod und Entgrenzung.

Im dritten Teil begegnet der Todesengel einem alten Mann, diesmal in der Gestalt eines „grünen Papageis“, der mit Spott und Erinnerung an eine vergangene Jugend das Sterben einleitet. Das Bild des tückischen, frechen Vogels, der ein letztes „böses Lächeln“ und den „Todesröcheln“ provoziert, bringt eine sarkastische Note in die Darstellung des Todes und unterstreicht dessen vielgestaltige, maskenhafte Natur.

Der vierte Teil kehrt zur Ausgangssituation zurück: Die Braut, fröstelnd und verletzlich, steht dem Todesengel gegenüber. In dieser Szene kulminieren Todessehnsucht und zarte Liebe: Beide „zittern“ nun – vor Angst, vor Begehren, vor der existenziellen Überwältigung. Die Apokalypse scheint greifbar nah: „Posaunenschall und dunkler Donner lachen“, doch es ist der „Strahl der Liebe“, der diese letzte Bewegung leitet. Die Braut bietet dem Engel „den Mund zum Küssen“ – eine Geste der Hingabe, die Leben und Tod vereint. So endet das Gedicht mit einer ambivalenten Vermählung von Liebe und Untergang, zwischen Verführung und Auflösung in der Düsternis.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.