Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, ,

Die Roggenmuhme

Von

Das Mägdlein spielt auf dem grünen Rain,
die bunten Blumen locken.
„Nicht sieht mich die Mutter“ – Ins Korn hinein
schleicht sacht es auf weichen Socken.

„Die roten und blauen Blumen wie schön!
Die will ich zum Kranz mir winden;
doch weiter hinein ins Feld muß ich gehn,
dort werd‘ ich die schönsten finden.“

Und weiter eilt es. Gefüllt ist die Hand,
da will es zurück sich wenden.
Es läuft und läuft und steht wie gebannt,
das Korn will nimmer enden.

„Hinaus zum Rain, zum Sonnenlicht!
Wo blieb die Mutter, die süße?“
Die Halme schlagen ihm ins Gesicht,
die Winde umschlingt die Fübe.

Und horch, da rauscht’s unheimlich bang,
die Ähren wallen und wogen.
„Da kommt – ach, daß ich der Mutter entsprang –
die Roggenmuhme gezogen!“

Sie kommt heran auf Windesfahrt,
die roten Augen blitzen,
gelb ist die Wange, langstachlicht ihr Bart,
die Haare sind Ährenspitzen.

„Wie kommst du her in mein Revier
und gehst auf verbotenen Pfaden?
Was raubst du meine Kinder mir,
Kornblumen und Mohn und Raden?

Weh dir!“ Sie streckt die Hand nach ihm aus,
es fühlt die stechenden Grannen.
„Nimm hin deine Blumen, und laß mich nach Haus!“
Und bebend stürzt es von dannen.

Fort, fort zur Mutter! Das Korn nimmt kein End‘,
vergebens will es entwischen,
die Roggenmuhme dicht hinter ihm rennt,
die Ähren höhnen und zischen.

Schon fühlt es, wie ihr Arm es umschlingt.
„Erbarme dich mein, erbarme!“
Dort ist der Rain. „O Mutter!“ – Da sinkt
das Kind ihr tot in die Arme.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Roggenmuhme von Jacob Loewenberg

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Roggenmuhme“ von Jacob Loewenberg erzählt in eindringlich-bildreicher Sprache eine dunkle Legende aus der bäuerlichen Sagenwelt. Es verbindet das scheinbar harmlose Kinderspiel mit einer unheimlichen Wendung ins Mythisch-Unheilvolle und entfaltet eine eindrückliche Warn- und Schreckensgeschichte, wie sie typisch für volkstümliche Erzähltraditionen ist.

Im Zentrum steht ein Mädchen, das in kindlicher Unschuld dem Reiz der Blumen folgt. Trotz des kurzen Zögerns – „Nicht sieht mich die Mutter“ – begibt es sich heimlich in das Kornfeld. Die anfangs lebendige und lockende Natur mit ihren „roten und blauen Blumen“ wird nach und nach zur bedrohlichen, unüberschaubaren Welt. Der Weg zurück scheint versperrt, das Kind gerät immer tiefer in eine unwirkliche Umgebung, in der das Feld zum Labyrinth wird.

Die Figur der „Roggenmuhme“ personifiziert das unheimliche Moment der Natur: Sie erscheint als dämonische Hüterin des Getreides, mit rot blitzenden Augen, stachligem Bart und einem Haar aus Ährenspitzen. Ihre Erscheinung wirkt archaisch und furchterregend, fast wie eine Naturgottheit oder eine zornige Erdmutter. Ihre Klage über das „Rauben“ ihrer Kinder – Kornblumen, Mohn und Raden – deutet auf die tiefe Verbindung zwischen Mensch und Natur hin, aber auch auf die Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen.

Sprachlich wird die Bedrohung durch den Rhythmus des Gedichts und durch lautmalerische Mittel intensiviert: Das „Rauschen“, „Wallen“, „Zischen“ der Ähren, das „rennen“ und „umschlingen“ erzeugen eine fast atemlose Spannung. Das Feld verwandelt sich von einem Ort kindlicher Neugier in ein feindliches, lebendiges Wesen, das keinen Ausweg mehr zulässt.

Die letzte Szene, in der das Kind tot in die Arme der Mutter sinkt, markiert den tragischen Endpunkt der Geschichte. Die Natur ist hier nicht mehr idyllisch, sondern zeigt sich als ambivalente Macht – schön und verführerisch, aber auch streng und tödlich. Die „Roggenmuhme“ wird damit zur mahnenden Figur für die Grenze zwischen Spiel und Ernst, zwischen menschlichem Übermut und der uralten Ordnung der Natur. Das Gedicht verbindet eindrucksvoll Kindheit, Mythos und Tod zu einer düsteren, fast balladenhaften Erzählung mit symbolischer Tiefe.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.