Ich geh dir nach, wie aus der dumpfen Zelle…
Ich geh dir nach, wie aus der dumpfen Zelle
ein Halbgeheilter schreitet: in der Helle
mit hellen Händen winkt ihm der Jasmin.
Ein Atemholen hebt ihn von der Schwelle, –
er tastet vorwärts: Welle schlägt um Welle
der großbewegte Frühling über ihn.
Ich geh dir nach in tiefem Dirvertrauen.
Ich weiß deine Gestalt durch diese Auen
vor meinen ausgestreckten Händen gehn.
Ich geh dir nach, wie aus des Fiebers Grauen
erschreckte Kinder gehn zu lichten Frauen,
die sie besänftigen und Furcht verstehn.
Ich geh dir nach. Wohin dein Herz mich führe
frag ich nicht nach. Ich folge dir und spüre
wie alle Blumen deines Kleides Saum..
Ich geh dir nach auch durch die letzte Türe,
ich folge dir auch aus dem letzten Traum…
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ich geh dir nach, wie aus der dumpfen Zelle…“ von Rainer Maria Rilke ist ein eindringliches Bekenntnis bedingungsloser Hingabe und Vertrautheit. Es zeichnet sich durch eine tiefgründige Metaphorik aus, die die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einer geliebten Person, oder vielleicht auch einer höheren Macht, thematisiert. Der Titel und die ersten Zeilen deuten bereits auf einen Zustand der Befreiung hin: „Ich geh dir nach, wie aus der dumpfen Zelle / ein Halbgeheilter schreitet“. Diese Metapher der Zelle, die für Enge, Dunkelheit und Leiden steht, bildet einen starken Kontrast zur „Helle“ und der einladenden Natur, die im Frühling auf den Halbgeheilten wartet. Der Jasmin, der mit „hellen Händen winkt“, symbolisiert hier die Verlockung und das Glück, das das lyrische Ich in der Nähe der geliebten Person erfährt.
Die zweite Strophe vertieft die Thematik des Vertrauens. Das lyrische Ich erklärt: „Ich geh dir nach in tiefem Dirvertrauen“. Dieses Vertrauen ist so stark, dass die physische Anwesenheit der geliebten Person fast schon überflüssig wird. Das Ich weiß ihre „Gestalt durch diese Auen“ und scheint sie sogar mit geschlossenen Augen zu „sehen“. Der Vergleich mit „erschreckten Kindern“, die zu „lichten Frauen“ gehen, unterstreicht die Suche nach Geborgenheit und Trost. Die geliebte Person wird hier zu einer Art Mutterfigur, die die Ängste des Ichs versteht und lindern kann. Dies deutet auf eine tiefe emotionale Bindung hin, die weit über bloße romantische Liebe hinausgeht.
In der dritten Strophe wird die Hingabe noch intensiver. Das lyrische Ich fragt nicht, wohin die geliebte Person geht, sondern folgt ihr bedingungslos: „Wohin dein Herz mich führe / frag ich nicht nach“. Der Ausdruck „Ich folge dir und spüre / wie alle Blumen deines Kleides Saum“ verdeutlicht eine fast religiöse Verehrung. Die Anziehungskraft der geliebten Person ist allgegenwärtig und beinahe greifbar. Die Metapher der Blumen am Saum des Kleides suggeriert eine tiefe Verbundenheit mit der geliebten Person und eine Aufgehen in ihr.
Die letzte Zeile, „ich folge dir auch aus dem letzten Traum…“, kulminiert in einem Gefühl der völligen Auflösung und Hingabe. Sie suggeriert, dass die Nachfolge der geliebten Person bis ins Jenseits oder in eine transzendente Dimension reichen wird. Der „letzte Traum“ könnte auch für den Tod stehen, was bedeutet, dass die Liebe oder die Verbundenheit des lyrischen Ichs über das irdische Leben hinaus andauert. Das Gedicht ist also ein Loblied auf die unerschütterliche Treue und die bedingungslose Liebe, die selbst die Grenzen der Realität und des Todes überwinden kann.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.