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Weihnacht

Von

Weihnachtsgeläute
Im nächtigen Wind…
Wer weiß, wo heute
Die Glocken sind,
Die Töne von damals sind?

Die lebenden Töne
Verflogener Jahr‘
Mit kindischer Schöne
Und duftendem Haar,
Mit tannenduftigem Haar,

Mit Lippen und Locken
Von Träumen schwer?…
Und wo kommen die Glocken
Von heute her,
Die wandernden heute her?

Die kommenden Tage,
Die wehn da vorbei.
Wer hörts, ob Klage,
Ob lachender Mai,
Ob blühender, glühender Mai?…

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Gedicht: Weihnacht von Hugo von Hofmannsthal

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Weihnacht“ von Hugo von Hofmannsthal reflektiert in melancholischer Stimmung die Flüchtigkeit der Zeit und die Vergänglichkeit einstiger Erlebnisse, insbesondere der kindlichen Weihnachtserfahrungen. Es ist kein klassisch besinnliches Weihnachtsgedicht, sondern eine poetische Meditation über Erinnerung, Veränderung und das Verlorengehen früherer Unmittelbarkeit.

Im Zentrum steht das Bild der Glocken, deren Klang durch den nächtlichen Wind getragen wird – ein Sinnbild für die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Frage „Wer weiß, wo heute / Die Glocken sind“ verweist auf die Entfremdung von dem, was einst vertraut und lebendig war. Der Klang der Glocken ist nicht mehr derselbe wie früher – oder vielmehr: die Empfindung, mit der er einst gehört wurde, ist verblasst.

Die zweite Strophe verknüpft die „lebenden Töne“ vergangener Jahre mit sinnlichen Eindrücken: „Mit kindischer Schöne / Und duftendem Haar“. Hier spricht eine tiefe Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit, nach Kindheit und Unschuld. Der Duft von Tannen, der Glanz von Haar und Lippen – alles steht für eine frühere Welt, die in ihrer Schönheit und Unmittelbarkeit nur noch als Erinnerung existiert. Diese früheren Weihnachten sind nicht mehr greifbar, sondern schweben wie Traumbilder durch die Verse.

Auch die Gegenwart bleibt fremd und rätselhaft: „Und wo kommen die Glocken / Von heute her?“ Die Verortung des Jetzt gelingt nicht, weil die emotionale Verbindung zu den aktuellen Festtagen fehlt oder nicht mehr dieselbe Tiefe besitzt. Die Glocken „wandern“, sind unbeständig – ein Symbol für das sich ständig Verändernde, das nie festzuhalten ist.

In der letzten Strophe wird ein Blick in die Zukunft geworfen. Die kommenden Tage ziehen vorbei, und es bleibt ungewiss, was sie bringen werden: „Klage“ oder „lachender Mai“. Hoffnung und Wehmut stehen nebeneinander – der Frühling als Symbol neuen Lebens kontrastiert mit der Ungewissheit, ob dieses neue Leben überhaupt als solches empfunden werden kann.

„Weihnacht“ ist somit ein leises, nachdenkliches Gedicht, das Weihnachten weniger als festliches Ereignis beschreibt, sondern als Auslöser tiefer innerer Bewegung. Hofmannsthal verbindet klangvolle Sprache mit subtiler Symbolik und entwirft ein Stimmungsbild zwischen Erinnerung, Verlust und vorsichtiger Erwartung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.