Frühlingstänzerin
In deinen Blicken wiegt sich der Frühling.
Rosengeflecht und ein Apfelzweig
Schaukeln ihn duftend einher.
Auf deiner Lippen Granat- und Marmorsitz
Streiten zehntausend Lerchen in süßem Tumult,
Wähnend sie säßen im Morgenrot.
Wo deine lieblich errötenden Füße schreiten,
Schlägt aus dem Boden ein holder Schwall von Musik
Und erstürmt sich den Himmel.
Wippend dem zierlichen Schmetterling gleich
Schreitest du tanzerhobenen Arms
Wie über schwankendes Seil.
Wenn deine tastenden Brüste den Atem der Gärten verspüren,
Heben und senken sie sich, zugespitzt,
In verworrnen Gedanken.
Zierlich ist deine Seele, dein Rotkehlchen gleich,
Und so ängstlich, daß sie bei plötzlichem Wort
Flatternd im Käfig sich stößt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Frühlingstänzerin“ von Hugo Ball ist eine zarte, zugleich sinnliche und symbolisch aufgeladene Huldigung an eine weibliche Gestalt, die mit dem Frühling, der Natur und der Musik verschmilzt. In impressionistischen Bildern und ungewöhnlichen Metaphern entwirft Ball das Porträt einer Tänzerin, deren Erscheinung als Inbild des Aufbruchs, der Verlockung und der Empfindsamkeit erscheint.
Bereits die ersten Verse verbinden den Blick der Tänzerin mit dem Frühling: Ihr Blick „wiegt“ ihn, als würde allein ihr Anblick die Jahreszeit des Neubeginns beschwören. Rosengeflecht und Apfelzweig – klassische Fruchtbarkeitssymbole – begleiten diesen Eindruck von Schönheit und Erblühen. Die Bildsprache ist durchzogen von Naturassoziationen, die die Tänzerin in ein mythisch aufgeladenes Licht tauchen.
Auf ihren Lippen herrscht ein „süßer Tumult“ von zehntausend Lerchen – ein überbordendes Bild für Klang, Leben und Frühlingsenergie. Das Morgenrot, in dem die Vögel sich wähnen, steigert die Aura des Aufbruchs und der Sinnlichkeit. Zugleich liegt in diesem Bild auch eine gewisse Ironie: Der vermeintlich natürliche Ort entpuppt sich als Illusion – als Lippen, also als Zeichen der Verführung.
Der Tanz der Frau wird mit Leichtigkeit und Magie aufgeladen: Ihre Schritte lassen Musik aus dem Boden steigen, die sich „den Himmel erstürmt“. Diese ekstatische Steigerung verweist auf die fast übermenschliche Wirkung ihrer Bewegung – sie erschafft, verzaubert, lässt Himmel und Erde sich begegnen.
In den letzten beiden Strophen wird die Körperlichkeit direkter angesprochen: Brust, Atem, Erregung – jedoch nicht in plumper Weise, sondern durch poetische Umschreibungen, die das Sinnliche mit dem Flüchtigen und Zarten verbinden. Die Seele der Tänzerin wird mit einem Rotkehlchen verglichen, das auf jede plötzliche Bewegung mit Angst reagiert. Damit erhält die Figur eine verletzliche, beinahe kindliche Dimension – zwischen Lebenslust und Scheu.
„Frühlingstänzerin“ ist ein fein gearbeitetes Gedicht, das klassische Motive von Schönheit, Natur und Weiblichkeit aufgreift, sie aber durch eigensinnige Sprachbilder transformiert. Hugo Ball, der oft mit radikalem Sprachzerfall arbeitete, zeigt sich hier von einer überraschend lyrischen Seite – mit einem schwebenden, fast traumhaften Ton, der das Bild einer mystisch-lebendigen, zugleich empfindsamen Frau in Szene setzt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.