Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , ,

Die Sonne

Von

Zwischen meinen Augenlidern fährt ein Kinderwagen.
Zwischen meinen Augenlidern geht ein Mann mit einem Pudel.
Eine Baumgruppe wird zum Schlangenbündel und zischt in den Himmel.
Ein Stein hält eine Rede. Bäume in Grünbrand. Fliehende Inseln.
Schwanken und Muschelgeklingel und Fischkopf wie auf dem Meeresboden.

Meine Beine strecken sich aus bis zum Horizont. Eine Hofkutsche knackt
Drüber weg. Meine Stiefel ragen am Horizont empor wie die Türme einer
Versinkenden Stadt. Ich bin der Riese Goliath. Ich verdaue Ziegenkäse.
Ich bin ein Mammuthkälbchen. Grüne Grasigel schnüffeln an mir.
Gras spannt grüne Säbel und Brücken und Regenbögen über meinen Bauch.

Meine Ohren sind rosa Riesenmuscheln, ganz offen. Mein Körper schwillt an
Von Geräuschen, die sich gefangen haben darin.
Ich höre das Meckern
Des großen Pan. Ich höre die zinnoberrote Musik der Sonne. Sie steht
Links oben. Zinnoberrot sprühen die Fetzen hinaus in die Weltnacht.
Wenn sie herunterfällt, zerquetscht sie die Stadt und die Kirchtürme
Und alle Vorgärten voll Krokus und Hyazinthen, und wird einen Schall geben
Wie Blech von Kindertrompeten.

Aber es ist in der Luft ein Gegeneinanderwehen von Purpur und Eigelb
Und Flaschengrün: Schaukeln, die eine orangene Faust festhält an langen Fäden,
Und ist ein Singen von Vogelhälsen, die über die Zweige hüpfen.
Ein sehr zartes Gestänge von Kinderfahnen.

Morgen wird man die Sonne auf einen großrädrigen Wagen laden
Und in die Kunsthandlung Caspari fahren. Ein viehköpfiger Neger
Mit wulstigein Nacken, Blähnase und breitem Schritt wird fünfzig weiß-
Juckende Esel halten, die vor den Wagen gespannt sind beim Pyramidenbau.

Eine Menge blutbunten Volks wird sich stauen:
Kindsbetterinnen und Ammen,
Kranke im Fahrstuhl, ein stelzender Kranich, zwei Veitstänzerinnen.
Ein Herr mit einer Ripsschleifenkrawatte und ein rotduftender Schutzmann.

Ich kann mich nicht halten: Ich bin voller Seligkeit. Die Fensterkreuze
Zerplatzen. Ein Kinderfräulein hängt bis zum Nabel aus einem Fenster heraus.
Ich kann mir nicht helfen: Die Dome zerplatzen mit Orgelfugen. Ich will
Eine neue Sonne schaffen. Ich will zwei gegeneinanderschlagen
Wie Zymbeln, und meiner Dame die Hand hinreichen. Wir werden entschweben
In einer violetten Sänfte über die Dächer euerer
Hellgelben Stadt wie Lampenschirme aus Seidenpapier im Zugwind.


Disclaimer – Historische Einordnung

Das Gedicht „Die Sonne“ von Hugo Ball entstand im frühen 20. Jahrhundert, einer Zeit, in der gesellschaftliche und sprachliche Konventionen noch stark von kolonialistischen und rassistischen Vorstellungen geprägt waren. Einzelne Begriffe und Formulierungen, die in diesem Text vorkommen, sind aus heutiger Sicht problematisch und werden heute zu Recht als diskriminierend und verletzend empfunden. Sie spiegeln jedoch die damalige Alltagssprache und den Zeitgeist wider und finden sich in vielen literarischen Werken dieser Epoche. Die Veröffentlichung und Interpretation des Gedichts erfolgt aus literaturhistorischen Gründen und in der Absicht, sich kritisch mit der Geschichte und den Veränderungen in Sprache und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die problematischen Ausdrücke werden nicht unkommentiert übernommen, sondern sollen Anlass zur Reflexion über den Wandel von Sprache und den Umgang mit diskriminierenden Inhalten bieten.


Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Sonne von Hugo Ball

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Sonne“ von Hugo Ball entführt den Leser in eine traumartige, surreale Welt voller leuchtender Bilder und phantastischer Metamorphosen. Bereits die ersten Zeilen erzeugen mit ungewöhnlichen, assoziativen Szenen einen Schwebezustand zwischen Realität und Imagination: Zwischen den Augenlidern des lyrischen Ichs erscheinen Alltagsmotive wie ein Kinderwagen und ein Mann mit Pudel, die sich nahtlos in absurd-groteske Naturbilder verwandeln, etwa eine Baumgruppe, die zu Schlangen wird, oder ein Stein, der eine Rede hält.

Diese Verschmelzung von Wirklichkeit und Fantasie ist typisch für den Dadaismus, zu dessen wichtigsten Vertretern Hugo Ball zählt. Die Dinge verlieren im Gedicht ihre vertraute Bedeutung und gewinnen neue, oft widersprüchliche Eigenschaften: Beine wachsen bis zum Horizont, Stiefel werden zu Türmen, das Ich mutiert zum Riesen Goliath und zugleich zum Mammutkalb. Diese spielerische Selbstauflösung des Subjekts zeugt von einer radikalen Öffnung der Wahrnehmung – alles wird möglich, alles darf gedacht werden.

Die Sonne selbst erscheint in mehrfacher Gestalt: als zinnoberrote Musik, als bedrohliche Kraft, die „herunterfällt“ und die Stadt zerquetscht, aber auch als Objekt, das auf einen Wagen geladen und in die Kunsthandlung transportiert wird – eine ironische Brechung der ehrfurchtsvollen Sonnenmetaphorik früherer Epochen. Hier wird die Sonne Teil eines bizarren Jahrmarkts, an dem sich eine bunte Menschenmenge, Tierfiguren und Fantasiegestalten tummeln, allesamt wie aus einem expressionistischen Bilderbogen entsprungen.

Neben der Überfülle an Farben, Formen und Geräuschen fällt das Motiv der Verwandlung auf: Fensterkreuze zerplatzen, Dome explodieren in Orgelfugen, das lyrische Ich will eine „neue Sonne schaffen“ und mit seiner Dame „entschweben“. Es ist ein ekstatischer Aufbruch, der die Grenzen des Alltäglichen sprengt und das Ziel einer vollkommenen, befreiten Welt heraufbeschwört – eine Sehnsucht nach Transzendenz, die gerade in der „Seligkeit“ gipfelt, in der das Ich sich nicht mehr „halten“ kann.

Hugo Ball gelingt es in diesem Gedicht, mit expressiven Bildern, wilden Metaphern und assoziativen Sprüngen eine surreale Innenwelt zu erschaffen, in der das Spielerische, das Absurde und das Visionäre miteinander verschmelzen. Die Sonne steht nicht mehr als Symbol für Klarheit oder göttliche Ordnung, sondern für die schöpferische Kraft der Fantasie, die alte Ordnungen zerreißt und neue Welten erschafft – im Geist des Dada.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.