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Hetären-Gräber

Von

In ihren langen Haaren liegen sie
mit braunen, tief in sich gegangenen Gesichtern.
Die Augen zu wie vor zu vieler Ferne.
Skelette, Munde, Blumen. In den Munden
die glatten Zähne wie eine Reise-Schachspiel
aus Elfenbein in Reihen aufgestellt.
Und Blumen, gelbe Perlen, schlanke Knochen,
Hände und Hemden, welkende Gewebe
über dem eingestürzten Herzen. Aber
dort unter jenen Ringen, Talismanen
und augenblauen Steinen (Lieblingsangedenken)
steht noch die stille Krypta des Geschlechtes,
bis an die Wölbung voll mit Blumenblättern.
Und wieder gelbe Perlen, weitverrollte, –
Schalen gebrannten Tones, deren Bug
ihr eignes Bild geziert hat, grüne Scherben
von Salben-Vasen, die wie Blumen duften,
und Formen kleiner Götter: Hausaltäre,
Hetärenhimmel mit entzückten Göttern.
Gesprengte Gürtel, flache Skarabäen,
kleine Figuren riesigen Geschlechtes,
ein Mund der lacht und Tanzende und Läufer,
goldene Fibeln, kleinen Bogen ähnlich
zur Jagd auf Tier- und Vogelamulette,
und lange Nadeln, zieres Hausgeräte
und eine runde Scherbe roten Grundes,
darauf, wie eines Eingangs schwarze Aufschrift
die straffen Beine eines Viergespannes.
Und wieder Blumen, Perlen, die verrollt sind,
die hellen Lenden einer kleinen Leier,
und zwischen Schleiern, die gleich Nebeln fallen
wie ausgekrochen aus des Schuhes Puppe:
des Fußgelenkes leichter Schmetterling.
So liegen sie mit Dingen angefüllt,
kostbaren Dingen, Steinen, Spielzeug, Hausrat,
zerschlagnem Tand (was alles in sie abfiel),
und dunkeln wie der Grund von einem Fluß.
Flußbetten waren sie,
darüber hin in kurzen schnellen Wellen
(die weiter wollten zu dem nächsten Leben)
die Leiber vieler Jünglinge sich stürzten
und in denen der Männer Ströme rauschten.
Und manchmal brachen Knaben aus den Bergen
der Kindheit, kamen zagen Falles nieder
und spielten mit den Dingen auf dem Grunde,
bis das Gefälle ihr Gefühl ergriff:
Dann füllten sie mit flachem klaren Wasser
die ganze Breite dieses breiten Weges
und trieben Wirbel an den tiefen Stellen;
und spiegelten zum ersten Mal die Ufer
und ferne Vogelrufe -, während hoch
die Sternennächte eines süßen Landes
im Himmel wuchsen,die sich nirgends schlossen.

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Gedicht: Hetären-Gräber von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Hetären-Gräber“ von Rainer Maria Rilke ist eine tiefgründige und komplexe Auseinandersetzung mit dem Tod, der Vergänglichkeit und der sinnlichen Welt. Das Gedicht beschreibt die Gräber von Hetären, antiken Kurtisanen, und entfaltet eine reiche Bildersprache, die von den Grabbeigaben, der Verwesung und der ewigen Wiederkehr des Lebens geprägt ist.

Rilke beginnt mit einer Beschreibung der toten Frauen, deren Gesichter von tiefer Kontemplation zeugen. Die „braunen, tief in sich gegangenen Gesichter“ deuten auf eine innere Versenkung und eine Auseinandersetzung mit dem Tod hin. Die Aufzählung der Grabbeigaben, wie „Skelette, Munde, Blumen“, unterstreicht die Vergänglichkeit der physischen Schönheit und die Verbindung von Leben und Tod. Die „glatten Zähne wie eine Reise-Schachspiel“ und die „Blumen, gelbe Perlen“ symbolisieren die einstigen Freuden und die Schönheit, die nun dem Verfall preisgegeben sind.

Der zweite Teil des Gedichts geht tiefer in die Gräber ein und offenbart eine Fülle von Artefakten: „Ringen, Talismanen“, „Scherben von Salben-Vasen“, „goldene Fibeln“ und „kleine Figuren“. Diese Objekte repräsentieren die Welt der Hetären, ihre sinnliche Lebensweise, ihre Liebe zur Schönheit und ihre Verbindung zu den Göttern. Die „stille Krypta des Geschlechtes“ und die „Formen kleiner Götter“ weisen auf eine tiefe Verbindung zur Fruchtbarkeit und zur Fortpflanzung hin, wodurch das Gedicht auch eine Auseinandersetzung mit dem Kreislauf von Leben und Tod beinhaltet.

Die Metapher des Flusses ist zentral für die Interpretation des Gedichts. Die Gräber werden zu Flussbetten, in denen sich die „Leiber vieler Jünglinge“ stürzten und die „Ströme der Männer“ rauschten. Diese Bilder deuten auf die sexuelle Anziehungskraft und die Vergänglichkeit der Jugend hin. Die „Knaben aus den Bergen der Kindheit“ repräsentieren die Unschuld und das Spiel, bevor sie von dem Gefühl der Vergänglichkeit erfasst werden. Das „flache klare Wasser“ und die „Sternennächte eines süßen Landes“ symbolisieren schließlich die Hoffnung auf ein neues Leben und die Unendlichkeit des Universums.

Rilkes „Hetären-Gräber“ ist ein komplexes und vielschichtiges Gedicht, das die Themen Tod, Vergänglichkeit, Sinnlichkeit und die ewige Wiederkehr des Lebens auf eindringliche Weise miteinander verbindet. Durch seine reiche Bildersprache und seine tiefgründigen Metaphern lädt das Gedicht den Leser dazu ein, über die Natur des menschlichen Daseins und die Beziehung zwischen Leben und Tod nachzudenken. Die Schönheit des Gedichts liegt in der Art und Weise, wie es die Vergänglichkeit feiert und gleichzeitig die Hoffnung auf eine ewige Wiederkehr des Lebens aufrechterhält.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.