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Herrad

Von

Welt reichte nur vom kleinen Garten, drin die Dahlien blühten, bis zur Zelle
Und durch die Gänge nach dem Hof und früh und Abends zur Kapelle’
Aber unter mir war Ebene, ins Grün versenkt, mit vielen Kirchen und weiß blühenden Obstbäumen,
Hingedrängten Dörfern, weit ins Land gerückt, bis übern Rhein, wo wieder blaue Berge sie umsäumen.
An ganz stillen Nachmittagen meinte man die Stimmen von den Straßen heraufwehen zu hören, und Abends kam Geläute,
Das hoch den blau ziehenden Rauch der Kamine überflog und mich in meinem Nachsinnen erfreute.

Wenn dann die Nacht herabsank und über meinem Fenster die Sterne erglommen,
War eine fremde Welt aus Büchern auf mich hergesenkt und hat mich hingenommen.
Ich las von Torheit dieser Welt, Bedrängnis, Späßen, Trug und Leiden,
Fromme Heiligengeschichten, grausenvoll und lieblich, und die alte Weisheit der Heiden.
Sinnen und Suchen vieler Menschenseelen war vor meine Augen hingestellt,
Und Wunder der Schöpfung und Leben, das ich liebte, und die Herrlichkeit der Welt.

Und ich beschloß, all das Krause, das ich seit so viel Jahren
Aus Büchern und Wald und Menschenherzen und einsamen Stunden erfahren,
Alles Gute, das ich in diesem Erdenleben empfangen,
Treu und künstlich in Bild und Schrift zu bewahren und einzufangen.
Später, wenn die Augen schwächer würden, in den alten Tagen,
Würd ich in meiner Zelle sitzen und übers Elsaß hinblicken und mein Buch aufschlagen,
Und meiner Seele sprängen wie am Heiligenquell im Wald den Blinden Wunderbronnen,
Und still ergieng ich mich und lächelnd in dem Garten meiner Wonnen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Herrad von Ernst Stadler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Herrad“ von Ernst Stadler entfaltet eine tiefgründige Reflexion über die Welt, das Wissen und die innere Einkehr, die durch das Leben und die Arbeit einer Frau in einem begrenzten Raum, einer Zelle, ermöglicht werden. Die Verse beschreiben die Welt Herrads, die sich von der Enge des Gartens und der Zelle zu einer weiten Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt, wandelt und schließlich die unendliche Welt der Bücher und des Wissens umfasst. Der Fokus liegt dabei auf der Verbindung von äußerer Wahrnehmung, innerer Verarbeitung und dem Wunsch, das Erfahrene festzuhalten.

Der erste Teil des Gedichts, der sich auf die äußere Welt bezieht, zeigt eine bemerkenswerte Entwicklung. Anfangs ist die Welt Herrads auf den kleinen Garten und die Klosterzelle beschränkt. Doch diese Enge löst sich auf, als der Blick über die Ebene, die Dörfer, den Rhein und die Berge schweift. Die Erwähnung der Stimmen von der Straße und des Geläuts deutet auf eine lebendige Außenwelt hin, die jedoch durch die Abgeschiedenheit der Zelle gefiltert wahrgenommen wird. Diese Abgeschiedenheit ermöglicht es Herrad, die Welt auf eine besondere Weise zu betrachten: Sie nimmt nicht nur die physische Landschaft wahr, sondern auch die Geräusche und die Atmosphäre, die von außerhalb in ihre Zelle dringen.

Der zweite Teil des Gedichts, der sich auf das innere Erleben bezieht, enthüllt die Bedeutung des Wissens und der Reflexion. Die Nacht und die Sterne, die über dem Fenster erglimmen, fungieren als Katalysator für die Welt der Bücher, die Herrad in ihren Bann zieht. Die Vielfalt der gelesenen Inhalte – von Torheit und Leiden bis hin zu Heiligengeschichten und der Weisheit der Heiden – verdeutlicht die Tiefe und Breite ihres Wissens. Diese Auseinandersetzung mit dem Wissen, mit der menschlichen Natur und den Wundern der Welt, führt zu dem Entschluss, alles Gute und das Erfahrene in Bild und Schrift festzuhalten. Das ist eine Reaktion auf die unaufhaltsame Flucht der Zeit und ein Versuch, die gewonnenen Erkenntnisse für die Nachwelt zu bewahren.

Das abschließende Bild der alternden Herrad, die in ihrer Zelle sitzt und über das Elsaß blickt, offenbart die Quintessenz des Gedichts. Hier verschmelzen die äußere Welt und das innere Wissen zu einer Einheit. Die Erinnerung an die gesammelten Erfahrungen, das Wissen und die Schönheit der Welt, ermöglicht es ihr, Frieden zu finden und in den Garten ihrer Wonnen einzutauchen. Das Buch, das sie aufschlägt, wird zum Spiegelbild ihres Lebens und ihrer Seele, und die Erinnerung an die Vergangenheit belebt sie wie eine Quelle, die Wunder wirkt. Stadler zeichnet hier das Bild einer Frau, die durch ihre Arbeit und Reflexion einen Weg der Erfüllung und der tiefen Sinnfindung gefunden hat.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.