Herr Hanssen
Herr Doktor Hanssen mürrisch steht,
Da tritt zu ihm Herr Janssen:
„Warum so trüb?“ „“Das alte Lied!““
Spricht ärgerlich Herr Hanssen.
„Das alte Lied?“ „“Ja, freilich doch,
Das Lied vom Buchverleihen —
Auf manche Bände wart′ ich noch,
Seit Jahren zwei und dreien,
Und grade aus der Mitte just
Von meinen besten Banden —
Wie oft schon sann ich übler Lust:
Wer hat das Buch in Händen?““
„Ei“, spricht Herr Janssen, der gar klug,
„Mein Hanssen sei doch klüger!
Leg′ an Dir ein Verleihungsbuch,
Dann weißt Du, wo die Bücher.“
„“Ein Buch? O just, das leiht von mir
Ein andrer schon zum Lesen –
Und all′ ihr Bücherleiher, ihr
Seid dann für mich — gewesen!““
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Herr Hanssen“ von Franz Alfred Muth entfaltet in humorvoller Weise ein universelles Problem: die Erfahrung des Verlusts und der Ungewissheit, die mit dem Verleihen von Büchern einhergeht. Der Titelcharakter, Herr Doktor Hanssen, wird als mürrisch eingeführt, was sofort die Grundlage für die kommende Beschwerde legt. Die Frage von Herrn Janssen nach der Ursache von Hanssens Trübsinnigkeit ist der Auftakt zu einem Dialog, der das zentrale Thema des Gedichts offenbart: die Sorge um die verschwundenen Bücher.
Die zweite Strophe vertieft die Klage Hanssens, der sich über das „alte Lied“ des Buchverleihens beklagt. Er wartet seit Jahren auf die Rückgabe verschiedener Bücher, insbesondere aus seiner wertvollsten Sammlung. Dies deutet auf eine tiefe Verbundenheit mit seinen Büchern und eine Frustration über deren Abwesenheit hin. Hanssens Gedankenspiel, die Frage nach dem Verbleib der Bücher und die damit verbundene „üble Lust“ des Nachdenkens über den Schuldigen, zeigt die emotionale Investition, die er in seine Bibliothek getätigt hat.
Herr Janssens Ratschlag, ein Verleihbuch anzulegen, um den Überblick zu behalten, bietet eine pragmatische Lösung. Die ironische Pointe liegt jedoch in Hanssens Antwort. Er verweist darauf, dass auch dieses Buch selbst bereits verliehen ist, wodurch der Teufelskreis des Buchverleihens, des Verlusts und der Ungewissheit auf humorvolle Weise komplettiert wird. Die letzte Zeile, „Und all‘ ihr Bücherleiher, ihr / Seid dann für mich — gewesen!“, drückt eine gewisse Resignation und den Verlust einer Beziehung aus, der durch das Fehlen der Bücher entsteht.
Muths Gedicht verbindet Alltagsprobleme mit einer poetischen Form. Der regelmäßige Reim und die einfache Sprache machen das Gedicht leicht zugänglich. Die Charaktere, die als „Herr“ angeredet werden, wirken durch ihre bürgerliche Alltagssprache realistisch. Die Botschaft des Gedichts ist universell und zeitlos: die Erfahrung von Verlust, die Suche nach Ordnung und die Unvermeidlichkeit der menschlichen Unzulänglichkeiten.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.