Tagesanbruch
Oft in des Morgens klarer Frische,
Wann kräftig flammt der Seele Licht,
Naht plötzlich mir ein Bild, womit ich Tag und Licht
Auf einen Augenblick verwische.
Ich seh‘ mich selber, fern und doch wie nah,
Dahingestreckt, wie ich den Vater sah,
Die Lippen stumm, die Augen eingedrückt,
Des Herzens Schlag gebrochen und erstickt,
Und folge mit dem Blick dem feierlichen Zug,
Der auch die Vor’gen so hinuntertrug.
Zerfließe, Traumgebild! und Luft und Morgenschein,
Umfittigt mich mit sichern Lebensmahlen!
Die Seele badet doppelt froh sich rein
So in des Geistes, wie der Sonne Strahlen.
Und haben sie mich eingescharrt,
Dann, teures Wort, in Dir sei meine Gegenwart!
Herüber sei die Geisterhand gereicht
Dem der, wie ich jetzt, durch die Berge streicht,
Und in den Morgen, der so labend haucht,
Sein Leben taucht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Tagesanbruch“ von Hermann Kurz beschreibt eine tiefgründige Reflexion über Leben, Tod und das Streben nach spiritueller Erleuchtung im Morgengrauen. Zu Beginn wird der „klaren Frische“ des Morgens und dem „Licht der Seele“ eine symbolische Bedeutung beigemessen, die den Tag als Neuanfang und als Gelegenheit zur Erleuchtung darstellt. Doch in diesem Moment der Klarheit tritt plötzlich ein Bild in den Vordergrund, das die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt. Der Sprecher sieht sich selbst, „fern und doch wie nah“, was auf eine Selbstbeobachtung hinweist, die sowohl distanziert als auch zutiefst intim ist.
Das Bild des Sprechers, „dahingestreckt, wie ich den Vater sah“, bringt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und dem Verlust eines geliebten Menschen, in diesem Fall des Vaters, zum Ausdruck. Der Tod wird hier nicht nur als Ende, sondern als ein feierlicher Prozess dargestellt, bei dem der „feierliche Zug“ der Vorfahren den Sprecher mitnimmt, was die Kontinuität des Lebens und der Ahnen symbolisiert. Es ist ein Moment der Erinnerung und des Nachdenkens über den natürlichen Zyklus von Leben und Tod.
Im weiteren Verlauf des Gedichts folgt der Sprecher einem inneren Impuls, das „Traumgebild“ aufzulösen und sich von den düsteren Gedanken zu befreien. Der Wunsch, sich von den „sicheren Lebensmahlen“ umhüllen zu lassen, ist ein Ausdruck des Verlangens nach innerer Ruhe und Stabilität, die sowohl durch das „Geistige“ als auch das „Sonnenstrahlen“ symbolisiert werden. Diese Passage stellt einen Moment der Reinigung und des Neubeginns dar, bei dem der Sprecher in den Morgen eintaucht und sich von der Sonne und dem Geist gleichermaßen erfrischen lässt.
Die abschließenden Zeilen sprechen von einem Übergang, der das Erreichen einer spirituellen Verbindung mit einem höheren Bewusstsein oder einer übergeordneten Kraft symbolisiert. „Teures Wort“ und „Geisterhand“ weisen auf den Wunsch hin, mit einer höheren Macht in Kontakt zu treten, die den Sprecher durch das Leben begleitet, „durch die Berge streicht“. Der „Morgen, der so labend haucht“, stellt dabei nicht nur den physischen Beginn eines neuen Tages dar, sondern auch das spirituelle Aufeinandertreffen von Leben und erleuchtetem Bewusstsein. Das Gedicht endet mit dem Gefühl, dass der Sprecher in diesem Moment des „Lebens tauchens“ in die Weisheit des Universums eintaucht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.