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XXII.   Ich waene, nieman lebe

Von

I

Ich waene, nieman lebe, der mînen kumber weine,
den ich eine trage,
ez entuo diu guote, die ich mit triuwen meine,
vernimt si mîne klage.
Wê, wie tuon ich sô, daz ich sô herzeclîche
bin an sî verdâht, daz ich ein künicrîche
vür ir minne niht ennemen wolde,
ob ich teilen unde weln solde?

II

Swer mir des verban, obe ich si minne tougen,
seht, der sündet sich.
swen ich eine bin, si schînt mir vor den ougen.
sô bedunket mich,
Wie si gê dort her ze mir aldur die mûren.
ir rede und ir trôst enlâzent mich niht trûren.
swenne si wil, sô vüeret sî mich hinnen
zeinem venster hôh al über die zinnen.

III

Ich waene, si ist ein Vênus hêre, die ich dâ minne,
wan si kan sô vil.
sî benimt mir beide vröide und al die sinne.
swenne sô si wil,
Sô gêt sî dort her zuo einem vensterlîne
unde siht mich an reht als der sunnen schîne.
swanne ich sî danne gerne wolde schouwen,
ach, sô gêt si dort zuo andern vrouwen.

IV

Dô si mir alrêrst ein hôchgemüete sande
in daz herze mîn,
des was bote ir güete, die ich wol erkande,
und ir liehter schîn
Sach mich güetlîch an mit ir spilnden ougen,
lachen sî began ûz rôtem munde tougen.
sa zehant enzunte sich mîn wunne,
daz mîn muot stêt hôhe sam diu sunne.

V

Wê, waz rede ich? jâ ist mîn geloube boese
und ist wider got.
wan bite ich in des, daz er mich hinnen loese?
ez was ê mîn spot.
Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet.
waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet,
swâ man mînen kumber sagt ze maere,
daz man mir erbunne mîner swaere?

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Gedicht: XXII.   Ich waene, nieman lebe von Heinrich von Morungen

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ich waene, nieman lebe“ von Heinrich von Morungen ist ein leidenschaftlicher Ausdruck unerfüllter Liebe, die das lyrische Ich bis an die Grenze von Lebensverzweiflung und spirituellem Zwiespalt führt. In fünf Strophen entfaltet sich das innere Drama eines Liebenden, der seine Angebetete über alles stellt, in ihrem Anblick schwelgt und dennoch an ihrer Unerreichbarkeit zerbricht.

Bereits in der ersten Strophe schildert der Sprecher seinen tiefen Kummer, den niemand mit ihm zu teilen scheint. Nur „diu guote“, die von ihm in treuer Liebe verehrt wird, könnte ihn lindern – wenn sie denn seine Klage erhörte. In einem eindrucksvollen Bild erklärt er, dass er selbst ein Königreich ausschlagen würde, sollte er zwischen Liebe zu ihr und irdischem Reichtum wählen müssen. Damit wird seine Liebe zur höchsten Wertgröße erhoben.

Die zweite und dritte Strophe betonen die Macht der Geliebten über sein inneres Erleben. Allein ihre Erscheinung raubt ihm die Sinne, ihre Worte trösten ihn, und sie besitzt die Fähigkeit, ihn „zeinem venster hôh al über die zinnen“ zu führen – ein Bild, das zwischen sinnlicher Verlockung und geistiger Erhebung oszilliert. Doch genau diese Nähe ist trügerisch: Wenn er sie erblicken will, wendet sie sich anderen Frauen zu. Die Hoffnung wird stets im Moment ihrer Erfüllung zurückgenommen.

In der vierten Strophe blickt das Ich auf einen frühen, glücklichen Moment zurück, in dem die Geliebte ihm ein „hôchgemüete“ – also Hochsinn oder Lebensfreude – schenkte. Ihr Anblick, ihr Lächeln, ihre „spilnden ougen“ entzündeten seine Wonne wie Sonnenlicht. Dieser Moment idealer Schönheit und Güte prägt sein ganzes inneres Streben und lässt ihn auch in der Gegenwart nicht los.

Die letzte Strophe bringt einen erschütternden Wendepunkt: Der Sprecher zweifelt an sich selbst, nennt seinen Glauben „boese“ und „wider got“, weil er sich wünscht, dem Leiden zu entkommen – sogar durch den Tod. In einem eindringlichen Vergleich bezeichnet er sich als Schwan, der singt, wenn er stirbt. Der Gesang, Sinnbild seiner Dichtung und seiner Liebe, wird damit zur letzten Handlung seines Lebens. Doch bleibt eine zarte Hoffnung bestehen: Vielleicht bringt sein Gesang doch noch Erlösung – wenn andere von seinem Leid erfahren und Mitleid empfinden.

Heinrich von Morungen gestaltet hier ein intensives Bild von Liebe, die sich selbst genügt und dennoch an der Unerfüllbarkeit zerbricht. Zwischen göttlicher Anbetung, irdischer Sehnsucht und innerem Zweifel oszilliert ein Ich, das im Schmerz seine höchste Wahrheit findet – poetisch, ergreifend und tief in der Minnetradition verankert.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.