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I.   Si ist ze allen êren

Von

I

Si ist ze allen êren ein wîp wol erkant,
schoener gebaerde, mit zühten gemeit,
sô daz ir lop in dem rîche umbe get.
alse der mân wol verre über lant
liuhtet des nahtes wol lieht unde breit,
sô daz sîn schîn al die welt umbevet,
Als ist mit güete umbevangen diu schône.
des man ir jêt,
si ist aller wîbe ein krône.

II

Diz lop beginnet vil vrouwen versmân,
daz ich die mîne vür alle andriu wîp
hân zeiner krône gesetzet sô hô,
unde ich der deheine ûz genomen hân.
des ist vil lûter vor valsche ir der lîp,
smal wol ze mâze, vil fier unde vrô.
Des muoz ich in ir genâden belîben,
gebiutet si sô,
mîn liebest vor allen wîben.

III

Got lâze sî mir vil lange gesunt,
die ich an wîplîcher staete noch ie vant,
sît si mîn lîp ze einer vrowen erkôs.
wol ir vil süezer – vil rôt ist ir der munt,
ir zene wîze ebene – verre bekant,
durch die ich gar alle unstaete verkôs,
Dô man si lobte als reine unde wîse,
senfte unde lôs;
dar umbe ich si noch prîse.

IV

Ir tugent reine ist der sunnen gelîch,
diu trüebiu wolken tuot liehte gevar,
swenne in dem meien ir schîn ist sô klâr.
des wirde ich staeter vröide vil rîch,
daz überliuhtet ir lop alsô gar
wîp unde vrowen die besten vür wâr,
Die man benennet in tiuschem lande.
verre unde nâr
sô ist si ez, diu baz erkande.

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Gedicht: I.   Si ist ze allen êren von Heinrich von Morungen

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Si ist ze allen êren“ von Heinrich von Morungen ist ein klassisches Beispiel der hohen Minne und preist in vier Strophen eine idealisierte Frau, die mit übernatürlicher Schönheit, Tugend und Liebeswürdigkeit ausgestattet ist. Der Sprecher erhebt sie über alle anderen Frauen und beschreibt sie mit emphatischen Bildern, die sowohl die höfische Kultur als auch religiös-mystische Assoziationen aufrufen.

In der ersten Strophe wird die Frau als „krône aller wîbe“ – Krone aller Frauen – gefeiert. Ihre Schönheit und Tugend strahlen wie ein Licht über das ganze Reich hinaus. Die Metapher des Lichts, das „die Welt umbevet“, also erschüttert oder durchdringt, erinnert an göttliche Erscheinungen und unterstreicht ihre übermenschliche Wirkung. Dieses Lichtmotiv ist typisch für die Minne-Dichtung und verweist auf eine Frau, deren Wirkung spirituelle Erleuchtung gleichkommt.

Die zweite Strophe thematisiert das Risiko und die Provokation, die mit einem so exklusiven Lob einhergehen. Der Sprecher erklärt offen, dass er diese eine Frau über alle anderen stellt, was bei „vrouwen“ Anstoß erregen mag. Doch ihre äußere Erscheinung – „smal wol ze mâze“, also wohlgeformt und maßvoll – sowie ihr frohes Wesen rechtfertigen die Wahl. Die Minne wird hier zur persönlichen Entscheidung und inneren Verpflichtung, die über gesellschaftliche Konventionen hinausgeht.

In der dritten Strophe wird die Verehrung noch inniger. Der Sprecher betet beinahe um die Gesundheit der Geliebten, die sich durch weibliche Beständigkeit („wîplîcher staete“) auszeichnet. Ihre äußere Schönheit – roter Mund, weiße Zähne – ist nicht bloß ornamentales Detail, sondern Ausdruck innerer Reinheit. Die Frau erscheint als Gegenbild zur Unbeständigkeit der Welt: ein Fixpunkt, der dem Sprecher eine neue Lebensrichtung gibt.

Die letzte Strophe vergleicht ihre Tugend mit der Sonne, die selbst trübe Wolken hell färbt. Ihr Lob überstrahlt alle anderen Frauen – sie wird zum Maßstab weiblicher Vollkommenheit im gesamten „tiuschem lande“. Dieser universale Anspruch betont, dass es sich hier nicht um individuelle Verliebtheit handelt, sondern um eine idealisierte Liebe im höfischen Sinn, die das Streben nach Reinheit, Größe und geistiger Läuterung ausdrückt. Heinrich von Morungen verbindet in diesem Gedicht auf kunstvolle Weise körperliche Schönheit mit moralischer Größe und religiöser Symbolik – ein herausragendes Beispiel für die spirituelle Überhöhung der Frau in der mittelalterlichen Minnepoesie.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.