Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Germania an ihre Kinder

Von

1

Die des Maines Regionen,
Die der Elbe heitre Au’n,
Die der Donau Strand bewohnen,
Die das Odertal bebaun,
Aus des Rheines Laubensitzen,
Von dem duft’gen Mittelmeer,
Von der Riesenberge Spitzen,
Von der Ost- und Nordsee her!

Chor

Horchet! – Durch die Nacht, ihr Brüder,
Welch ein Donnerruf hernieder?
Stehst du auf, Germania?
Ist der Tag der Rache da?

2

Deutsche, mut’ger Kinder Reigen,
Die, mit Schmerz und Lust geküßt,
In den Schoß mir kletternd steigen,
Die mein Mutterarm umschließt,
Meines Busens Schutz und Schirmer,
Unbesiegtes Marsenblut,
Enkel der Kohortenstürmer,
Römerüberwinderbrut!

Chor

Zu den Waffen, zu den Waffen!
Was die Hände blindlings raffen!
Mit dem Spieße, mit dem Stab
Strömt ins Tal der Schlacht hinab!

3

Wie der Schnee aus Felsenrissen,
Wie auf ew’ger Alpen Höh’n
Unter Frühlings heißen Küssen
Siedend auf die Gletscher gehn:
Katarakten stürzen nieder,
Wald und Fels folgt ihrer Bahn,
Das Gebirg hallt donnernd wider,
Fluren sind ein Ozean –

Chor

So verlaßt, voran der Kaiser,
Eure Hütten, eure Häuser,
Schäumt, ein uferloses Meer,
Ueber diese Franken her!

4

Der Gewerbsmann, der den Hügeln
Mit der Fracht entgegenzeucht,
Der Gelehrte, der auf Flügeln
Der Gestirne Saum erreicht,
Schweißbedeckt das Volk der Schnitter,
Das die Fluren niedermäht,
Und vom Fels herab der Ritter,
Der, sein Cherub, auf ihm steht –

Chor

Wer in unzählbaren Wunden
Jener Fremden Hohn empfunden,
Brüder, wer ein deutscher Mann,
Schließe diesem Kampf sich an!

5

Alle Triften, alle Stätten
Färbt mit ihren Knochen weiß;
Welchen Rab‘ und Fuchs verschmähten,
Gebet ihn den Fischen preis;
Dämmt den Rhein mit ihren Leichen,
Laßt, gestäuft von ihrem Bein,
Schäumend um die Pfalz ihn weichen
Und ihn dann die Grenze sein!

Chor

Eine Lustjagd, wie wenn Schützen
Auf die Spur dem Wolfe sitzen!
Schlagt ihn tot! das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!

6

Nicht die Flur ist’s, die zertreten
Unter ihren Rossen sinkt;
Nicht der Mond, der in den Städten
Aus den öden Fenstern blinkt;^
Nicht das Weib, das mit Gewimmer
Ihrem Todeskuß erliegt
Und zum Lohn beim Morgenschimmer
Auf den Schutt der Vorstadt fliegt!

Chor

Das Geschehne sei vergessen!
Reue mög‘ euch ewig pressen!
Höh’rem als der Erde Gut
Schwillt an diesem Tag das Blut!

7

Rettung von dem Joch der Knechte,
Das, aus Eisenerz geprägt,
Eines Höllensohnes Rechte
Ueber unsern Nacken legt!
Schutz den Tempeln vor Verheerung!
Unsrer Fürsten heil’gem Blut
Unterwerfung und Verehrung!
Gift und Dolch der Afterbrut!

Chor

Frei auf deutschem Grunde walten
Laßt uns nach dem Brauch der Alten,
Seines Segens selbst uns freun
Oder unser Grab ihn sein!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Germania an ihre Kinder von Heinrich von Kleist

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Germania an ihre Kinder“ von Heinrich von Kleist ist ein pathetisch aufgeladenes, nationalistisches Aufrufgedicht, das in der Zeit der napoleonischen Besatzung entstanden ist. Es thematisiert den Freiheitskampf der Deutschen gegen die französische Fremdherrschaft und präsentiert Germania – eine allegorische Figur für das deutsche Vaterland – als leidende Mutter, die ihre Kinder zum bewaffneten Aufstand ruft. Die Sprache ist kraftvoll, bildgewaltig und stark emotionalisiert, was den Charakter des Gedichts als Mobilisierungsinstrument unterstreicht.

Zentral ist das Motiv der „Mutter Germania“, die sich an ihre Kinder wendet, die Bewohner der deutschen Landschaften, vom Main bis zur Nordsee, von den Alpen bis zum Mittelmeer. Die Aufzählung der Regionen in der ersten Strophe betont die nationale Einheit über geographische Grenzen hinweg. In den folgenden Strophen wird das deutsche Volk mythologisiert: Die Nachkommen der „Römerüberwinder“ werden in der zweiten Strophe als unbesiegbar dargestellt – ein direkter Appell an nationalen Stolz und historische Größe.

Immer wieder wird das lyrische Ich vom Chor unterbrochen, dessen Rufe die Wirkung des Gedichts verstärken: wie ein Kriegsgesang oder ein theatralischer Wechsel zwischen individueller Stimme und kollektiver Antwort. Die martialischen Metaphern – etwa das Volk, das wie ein Katarakt ins Tal stürzt, oder der Rhein, der mit Leichen gestaut werden soll – machen die Drastik des Aufrufs deutlich. Diese Bilder erzeugen eine Atmosphäre von Gewalt und apokalyptischer Reinigung, die den Hass auf die „Afterbrut“ (gemeint sind die Franzosen und Kollaborateure) legitimieren soll.

Gleichzeitig wird die gesamte deutsche Gesellschaft zum Kampf aufgerufen: Bauern, Ritter, Gelehrte und Arbeiter. Kleist stilisiert den Krieg als kollektive nationale Pflicht und moralische Notwendigkeit. Auch die Verbrechen der Besatzer werden beschrieben – das Leid der Frauen, die Zerstörung der Städte –, um das Rachebedürfnis zu schüren. Im Zentrum steht dabei nicht nur die Befreiung des Landes, sondern auch die Wiederherstellung von Ordnung, Ehre und göttlichem Recht.

Insgesamt ist das Gedicht ein eindrucksvolles Beispiel für die nationalromantische Rhetorik des frühen 19. Jahrhunderts. Es verklärt den Krieg als heilige Pflicht und bindet nationale Identität an Blut, Boden und historische Mission. Kleists „Germania an ihre Kinder“ ist dabei weniger als reines Kunstwerk zu lesen, sondern vielmehr als politisch-militärischer Aufruf – als sprachgewaltiges Manifest gegen Unterdrückung und für eine idealisierte deutsche Einheit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.