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Winterfliegen

Von

Beleuchtet von des Mondes kaltem Strahl
Liegt starr die weisse Welt im Winterfrost.
Wohl ihm, dem heut‘ ein Freund zur Seite steht
Gleich mir, ein Freund, der eine Klafter Holz
Behaglich bullernd aufgezehrt tagüber,
Und nun in sich befriedigt freundlich ausstrahlt
Den eignen Ueberschuss. Gesegnet sei
Mein alter Ofen, du mein Winterfreund!
Dem, welcher draussen klingt und knirscht, zum Trotz
Behaglich Dasein schaffst nur du! – und nimmer
Trägst du es nach, dass in der Sommerszeit
Verachtet du in deiner Ecke stehst.
Dann denkst du still: „Schon kommen wird die Zeit
Da ihr an meine grünglasirten Kacheln,
Anbetend fast voll Dank die Hände legt.
Behaglich summt der Kessel mir zur Seite
Umspielt von bläulich flammendem Geflacker –
Sonst alles still; – nur dass zuweilen drauss‘
Ein Schritt vorüberknirscht in frost’ger Hast
Und einsam, schneegedämpft ein Wagen rollt

Ein Märchen les‘ ich gern in solcher Zeit
Den alten Hoffmann hab‘ ich aufgeschlagen:
„Der gold’ne Topf“, „die Königsbraut“ und auch
Des „kleinen Zaches“ putzige Geschichte,
Das liest sich gut in solcher Winternacht.
So lieg‘ ich nun gemächlich hingestreckt
Zuweilen schlürfend goldigklaren Trank
Aus Chinas Flur, dem aus krystallner Flasche –
Zu Ehren Hoffmann’s – beigefügt ein Schlückchen
Des Feuersaftes aus Jamaika.

Wie ich so lese, summt es durch die Luft
Mit feinem Flügel, summt und lässt sich nieder
Auf meines Buches Rand. Sieh‘, eine Fliege!
Sie streicht die Beinchen sich und putzt die Flügel
Und krault sich flink den dickgeaugten Kopf –
Spaziert dann weiter aufs Papier. Ich höre
Das Rascheln ihrer Beinchen in der Stille.
Gewiss, ihr scheint das Blatt wie eine Wiese
Mit schwarzem, krausem Gras. Aufsummend nun
Zur Tasse fliegt sie hin. Ein Tropfen blieb
Am Rand. Den stumpfen Rüssel senkt sie vor
Und saugt ihn auf, behutsam und behaglich.
Welch‘ winzig Dasein gegen meins, und doch
Noch auserlesener als meins – fürwahr,
Denn wen’ge sind, die durch den Winter kommen
Durch Gunst des Glücks und eine warme Stube.

Was summst du kleine Fliege für ein Lied
In meiner Einsamkeit? Dein zarter Flügel
Er trägt mich fort zu jener fernen Zeit,
Da noch das junge unbewusste Herz
Voll guten festen Kinderglaubens war,
Die ungekannte Welt im ahnungsreichen,
In‘ seligblauen Hoffnungsdämmer lag.
Ach ihr, der Kindheit unschuldsvolle Träume,
Wo seid ihr hin? Wo bist du süsse Thorheit,
Die einst den Jüngling frohgemuth umsummte?
Ihr starbt dahin im Sturm der kalten Welt,
Älltäglichkeit hat euch zu Tod‘ geregnet
Und mit der Fliegenklatsche jäh erschlug
Der blankpolirte Herr euch, der Verstand!
Ja, wen’ge sind’s, die durch den Winter kommen
Durch Gunst des Glücks und durch ein warmes Herz.

Ach, denk‘ ich d’ran, es war doch schöne Zeit,
Und wie ein selig Zaubereiland liegt sie
Fern – hinter mir – in blauen Duft gebreitet –
Und ist dahin und kehret niemals wieder!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Winterfliegen von Heinrich Seidel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Winterfliegen“ von Heinrich Seidel verbindet in einer poetischen Szene der Wintereinsamkeit Themen wie Wärme, Erinnerung, Vergänglichkeit und die Zerbrechlichkeit von Kindheitsträumen. In meditativem Ton entfaltet der Sprecher ein Bild ruhiger Behaglichkeit, das durch eine kleine, scheinbar unbedeutende Fliege zu einem tiefgründigen Nachdenken über Leben und Zeit angeregt wird.

Eingeleitet wird das Gedicht durch eine stimmungsvolle Beschreibung einer froststarren Winterlandschaft, der ein wohlig-warmes Innenraum gegenübersteht. Der Ofen wird dabei nicht nur zum Symbol der körperlichen Wärme, sondern auch der seelischen Geborgenheit. Er „strahlt“ befriedigt aus und wird als „Winterfreund“ liebevoll angesprochen. Die Kälte draußen wird zur Metapher für das Fremde, Unheimliche oder Lebensfeindliche, gegen das sich der Sprecher in seiner Stube erfolgreich abschirmt.

In dieser geschützten Umgebung beginnt der Sprecher, E.T.A. Hoffmann zu lesen – ein Rückgriff auf romantische Märchenliteratur, die den geistigen Fluchtpunkt in vergangene oder fantastische Welten markiert. Der Genuss von Tee mit Rum steigert das Gefühl behaglicher Entrückung. Diese fast traumhafte Atmosphäre wird jedoch durch das Auftreten einer Fliege gebrochen – oder vielmehr vertieft: Das kleine Insekt wird nicht als störend, sondern als faszinierend wahrgenommen. Ihr Erscheinen mitten im Winter wird zum Anlass einer feinsinnigen, fast rührenden Beobachtung.

Die Fliege, winzig und verletzlich, wird zur Projektionsfläche für existentielle Fragen. Ihr Überleben im Winter erscheint als kleines Wunder, als „auserlesenes“ Dasein. Dabei schlägt das Gedicht eine bedeutende Wendung: Die Betrachtung des Insekts ruft Erinnerungen an die Kindheit hervor – eine Zeit, in der auch der Mensch selbst noch unversehrt und hoffnungsvoll lebte. Die „unschuldsvolle[n] Träume“ jener Zeit werden nun als verloren beklagt. In einer bitteren Pointe wird der „blankpolierte Herr Verstand“ zum Mörder jener Träume, sinnbildlich mit einer „Fliegenklatsche“.

Seidels Gedicht endet in leiser Melancholie: Die Kindheit erscheint als unwiederbringlich verlorenes Paradies, das „in blauen Duft gebreitet“ hinter dem Ich liegt. Die eingangs beschriebene Wärme des Ofens kontrastiert nun mit einer inneren Kälte: Nur „wenige“ – Menschen wie Fliegen – schaffen es, durch den „Winter“ der Entfremdung und Vernunft hindurchzukommen. Das Gedicht oszilliert somit zwischen Idylle und Resignation, und lässt die kleine Fliege als zartes Symbol für das Überleben des Träumens in einer rationalen Welt stehen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.