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Die Mittelmässigen

Von

Die Musik ist heutzutage
Wohl der Menschheit grösste Plage:
Schauervolles wird erreicht,
Wenn der Mensch die Geige streicht,
Oder um die Abendröthe
Zwecklos bläst auf einer Flöte.
Und ich hege die Vermutung,
Dass auch der Posaune Tutung
Manchem wohl bei Tag und Nacht
Keine grosse Freude macht.
Dieser schlägt mit viel Gebimbel
Grausamlich das Klavezimbel
Jener aber gnadenlos,
Kneift das Cello – Gott ist gross!
Seine Langmuth ist unendlich,
Treibt’s der Mensch auch noch so schändlich.

Andre wieder, wie wir wissen,
Sind der Poesie beflissen,
Kochen zu der Menschheit Schauer
Tag für Tag ihr Herz in Sauer,
Wandeln auf geblümter Au.
Viele Trauer-, Lust- und Schau-
Spiele fliessen zäh wie Leder
Aus der öden Dichterfeder,
Und es rinnt die trübe Fluth
Ohne Ende! – Gott ist gut,
Dass er solches lässt geschehn,
Ohne ins Gericht zu gehn!

Andre, zu der Menschheit Qualen,
Legen wieder sich aufs Malen
Und beschmieren ohne Ende
Viele schöne Leinewände
Und viel herrliches Papier,
Zum Erbarmen ist es schier! –
Wär‘ mit Rosen und Kamillen
Ihre Schmierwuth nur zu stillen
Nein, sie wagen frech und wild
Sich an Gottes Ebenbild,
Und sie pinseln und sie kratzen
Süsslich, wabblich ihre Fratzen,
Dass die liebe Sonne weint,
Wenn sie solchen Schund bescheint.
Und so reiht sich Bild zu Bilde
Unermesslich! – Gott ist milde,
Denn er warf noch nie mit Feuer
Unter solche Ungeheuer!

Doch, wenn mal ein grosser Geist
Sich empor zum Himmel reisst
Und vom ew’gen Born der Klarheit
Nieder bringt das Licht der Wahrheit,
Muss man sehen diese Ekel,
Diese krummgebeinten Teckel
Wie sie ihn herunter reissen
Und ihn in die Waden beissen,
Denn sie schätzen jeder Frist
Nur, was ihres Gleichen ist!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Mittelmässigen von Heinrich Seidel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Mittelmäßigen“ von Heinrich Seidel ist eine bissige, satirische Abrechnung mit dem künstlerischen Durchschnitt und dem vermeintlichen Kulturverfall seiner Zeit. In vier Strophen rechnet der Sprecher nacheinander mit Musikern, Dichtern, Malern und schließlich mit dem Publikum ab – allesamt Vertreter einer Welt, die sich mit Mittelmaß begnügt oder es sogar aggressiv verteidigt.

Bereits in der ersten Strophe wird die Musik als „Menschheit größte Plage“ bezeichnet. Statt Inspiration und Schönheit erzeugen die genannten Instrumente – Geige, Flöte, Posaune, Cello – lediglich Lärm, der mit Ironie als „grausamlich“ oder „gnadenlos“ beschrieben wird. Der Einsatz von lautmalerischen Ausdrücken wie „Tutung“ und die grotesken Bilder („Klavezimbel“, „Kneift das Cello“) karikieren dilettantisches Musizieren. Der ironisch angedeutete Trost: „Gott ist groß“ – trotz aller akustischen Vergehen.

In den folgenden Strophen dehnt sich die Kritik auf die Literatur und die bildende Kunst aus. Dichter „kochen“ Gefühle in „Sauer“, ihre Werke „fließen zäh wie Leder“ – ein Ausdruck für schwerfällige, bedeutungslose Poesie. Auch die Maler bleiben nicht verschont: Sie „beschmieren“ Papier und Leinwand, wagen sich „frech und wild“ an das „Ebenbild Gottes“ und produzieren „wabblich[e] Fratzen“. Der wiederholte Rückgriff auf göttliche Langmut und Milde betont dabei die Absurdität dieser künstlerischen Verirrungen.

In der letzten Strophe kulminiert das Gedicht in einer generellen Kulturkritik: Nicht nur sind die Kunstschaffenden mittelmäßig, sondern auch das Publikum, das wahre Größe nicht erkennen oder gar nicht dulden will. Der „große Geist“, der vom „Born der Klarheit“ kommt, wird von der „krummgebeinten“ Masse angefeindet. Das Bild der „Teckel“, die in die Waden beißen, veranschaulicht die Aggression des Mittelmaßes gegenüber allem, was aus ihm herausragt.

Seidels Gedicht ist ein satirisches Lamento über die Herrschaft des Banalen und die Undankbarkeit gegenüber wahrer Größe. Es verbindet klassisches Versmaß mit beißender Ironie und grotesken Bildern, um die Langeweile, Selbstüberschätzung und Trägheit der kulturellen Mehrheit anzugreifen. Dabei wird die scheinbar komische Übertreibung zum Vehikel ernsthafter Kritik an einer Gesellschaft, die echte Kreativität unterdrückt und das Gewöhnliche idealisiert.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.