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Babylonische Sorgen

Von

Mich ruft der Tod – Ich wollt‘, o Süße,
Daß ich dich in einem Wald verließe,
In einem jener Tannenforsten,
Wo Wölfe heulen, Geier horsten
Und schrecklich grunzt die wilde Sau,
Des blonden Ebers Ehefrau.

Mich ruft der Tod – Es wär noch besser,
Müßt ich auf hohem Seegewässer
Verlassen dich, mein Weib, mein Kind,
Wenngleich der tolle Nordpolwind
Dort peitscht die Wellen, und aus den Tiefen
Die Ungetüme, die dort schliefen,
Haifisch‘ und Krokodile, kommen
Mit offnem Rachen emporgeschwommen –
Glaub mir, mein Kind, mein Weib, Mathilde,
Nicht so gefährlich ist das wilde,
Erzürnte Meer und der trotzige Wald
Als unser jetziger Aufenthalt!
Wie schrecklich auch der Wolf und der Geier,
Haifische und sonstige Meerungeheuer:
Viel grimmere, schlimmere Bestien enthält
Paris, die leuchtende Hauptstadt der Welt,
Das singende, springende, schöne Paris,
Die Hölle der Engel, der Teufel Paradies –
Daß ich dich hier verlassen soll,
Das macht mich verrückt, das macht mich toll!

Mit spöttischem Sumsen mein Bett umschwirrn
Die schwarzen Fliegen; auf Nas‘ und Stirn
Setzen sie sich – fatales Gelichter!
Etwelche haben wie Menschengesichter,
Auch Elefantenrüssel daran,
Wie Gott Ganesa in Hindostan. –
In meinem Hirne rumort es und knackt,
Ich glaube, da wird ein Koffer gepackt,
Und mein Verstand reist ab – o wehe! –
Noch früher, als ich selber gehe.

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Gedicht: Babylonische Sorgen von Heinrich Heine

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Babylonische Sorgen“ von Heinrich Heine vereint düstere Todesahnung mit bitterer Ironie und scharfer Gesellschaftskritik. Das lyrische Ich fühlt sich vom Tod gerufen und stellt sich in grotesken Bildern vor, wie es seine Geliebte Mathilde in gefährlichen Gegenden wie einem dunklen Wald oder auf stürmischer See zurücklassen müsste. Doch in einer bitteren Wendung erklärt es, dass selbst diese wilden Naturorte weniger bedrohlich seien als der eigentliche Schauplatz: das moderne Paris.

Heine nutzt den Kontrast zwischen Naturgefahren – „Wölfe“, „Geier“, „Haifische“ – und der Großstadt als Bild für die soziale und moralische Verderbtheit seiner Umgebung. Paris erscheint hier nicht als Ort der Kultur und des Vergnügens, sondern als „Hölle der Engel, der Teufel Paradies“, ein widersprüchliches Sinnbild für Verlockung und Gefahr zugleich. Die Beschreibung der Stadt als gefährlicher und unmenschlicher als jede Naturgewalt verstärkt Heines Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit, die er als heuchlerisch und zersetzt empfindet.

Auch die letzte Strophe trägt diese düstere Ironie weiter: Die „schwarzen Fliegen“ mit „Menschengesichtern“ und „Elefantenrüsseln“ rufen groteske, albtraumhafte Bilder hervor und spiegeln die innere Zerrissenheit und das geistige Chaos des lyrischen Ichs wider. Der Verstand wird hier personifiziert und symbolisch als Reisender dargestellt, der das Ich verlässt, noch bevor der Tod eintritt – ein Sinnbild für Wahnsinn oder die völlige Überforderung durch die Umstände.

Heines Sprache changiert dabei zwischen verzweifeltem Ernst und sarkastischer Überspitzung. Das Gedicht vereint persönliche Angst vor dem Tod mit einer scharfen Kritik an der modernen Zivilisation, die der Natur gegenüber als ungleich bedrohlicher erscheint. „Babylonische Sorgen“ wirkt so wie eine düstere, von Resignation und Zynismus getragene Reflexion über das Leben im urbanen Zeitalter.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.