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An meine Mutter

Von

1.

Ich bin’s gewohnt, den Kopf recht hoch zu tragen,
Mein Sinn ist auch ein bißchen starr und zähe;
Wenn selbst der König mir ins Antlitz sähe,
Ich würde nicht die Augen niederschlagen.

Doch, liebe Mutter, offen will ich’s sagen:
Wie mächtig auch mein stolzer Mut sich blähe,
In deiner selig süßen, trauten Nähe
Ergreift mich oft ein demutvolles Zagen.

Ist es dein Geist, der heimlich mich bezwinget,
Dein hoher Geist, der alles kühn durchdringet,
Und blitzend sich zum Himmelslichte schwinget?

Quält mich Erinnerung, daß ich verübet
So manche Tat, die dir das Herz betrübet?
Das schöne Herz, das mich so sehr geliebet?

2.

Im tollen Wahn hatt ich dich einst verlassen,
Ich wollte gehn die ganze Welt zu Ende,
Und wollte sehn, ob ich die Liebe fände,
Um liebevoll die Liebe zu umfassen.

Die Liebe suchte ich auf allen Gassen,
Vor jeder Türe streckt ich aus die Hände,
Und bettelte um g’ringe Liebesspende –
Doch lachend gab man mir nur kaltes Hassen.

Und immer irrte ich nach Liebe, immer
Nach Liebe, doch die Liebe fand ich nimmer,
Und kehrte um nach Hause, krank und trübe.

Doch da bist du entgegen mir gekommen,
Und ach! was da in deinem Aug‘ geschwommen,
Das war die süße, langgesuchte Liebe.

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Gedicht: An meine Mutter von Heinrich Heine

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An meine Mutter“ von Heinrich Heine ist eine innige und reuige Liebeserklärung an die eigene Mutter. Im Zentrum steht das Motiv der bedingungslosen, reinen Mutterliebe im Kontrast zu der Enttäuschung und Kälte der Welt. In der ersten Strophe beschreibt Heine sich selbst als stolzen, selbstbewussten Menschen, der sich von niemandem beugen lässt – nicht einmal von einem König. Doch im Angesicht seiner Mutter weicht dieser Stolz einem „demutvollen Zagen“. Hier zeigt sich die besondere Macht der Mutter, die über die Autorität der Welt hinausgeht.

Heine deutet an, dass es sowohl der hohe Geist der Mutter als auch die Erinnerung an eigenes Fehlverhalten sein könnte, die dieses Gefühl der Demut hervorrufen. Die Mutter erscheint als moralische Instanz, die mit Güte und Weisheit über das Ich wacht, und zugleich als Quelle einer tiefen, uneingeschränkten Liebe, die der Sohn erst im Nachhinein ganz zu schätzen weiß.

In der zweiten Strophe schildert Heine seine Suche nach Liebe in der Welt. Er verließ die Mutter im „tollen Wahn“, um anderswo Zuneigung und Erfüllung zu finden. Doch die Suche bleibt vergeblich: Statt Liebe erfährt er nur Ablehnung und „kaltes Hassen“. Erst als er müde und enttäuscht nach Hause zurückkehrt, begegnet ihm im Blick der Mutter jene Liebe, die er vergebens in der Welt gesucht hat. Diese Liebe ist mütterlich, verlässlich und unverfälscht.

Mit bewegender Schlichtheit und emotionaler Tiefe macht Heine die Mutter zu einer Verkörperung von Güte und Treue. Das Gedicht ist eine reumütige Anerkennung der einzigartigen, verzeihenden Kraft der Mutterliebe und thematisiert zugleich die schmerzhafte Erkenntnis, dass manche Dinge – wie die bedingungslose Liebe – nur in der Nähe der Mutter zu finden sind.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.