Altes Lied
Du bist gestorben und weißt es nicht,
Erloschen ist dein Augenlicht,
Erblichen ist dein rotes Mündchen,
Und du bist tot, mein totes Kindchen.
In einer schaurigen Sommernacht
Hab ich dich selber zu Grabe gebracht;
Klaglieder die Nachtigallen sangen,
Die Sterne sind mit zur Leiche gegangen.
Der Zug, der zog den Wald vorbei,
Dort widerhallt die Litanei;
Die Tannen, in Trauermäntel vermummet,
Sie haben Totengebete gebrummet.
Am Weidensee vorüber gings,
Die Elfen tanzten inmitten des Rings;
Sie blieben plötzlich stehen und schienen
Uns anzuschaun mit Beileidsmienen.
Und als wir kamen zu deinem Grab,
Da stieg der Mond vom Himmel herab.
Er hielt eine Rede. Ein Schluchzen und Stöhnen,
Und in der Ferne die Glocken tönen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Altes Lied“ von Heinrich Heine thematisiert auf eindringliche Weise den Tod und die Trauer um eine verstorbene geliebte Person. Das lyrische Ich spricht das verstorbene Kindchen direkt an, wodurch eine melancholische und intime Atmosphäre entsteht. Der Tod wird nicht als plötzlicher Moment dargestellt, sondern als stilles Vergehen, das bereits vollzogen ist, ohne dass die Verstorbene es selbst bemerkt.
Die zweite und dritte Strophe beschreiben eine unheimliche, fast gespenstische Totenprozession. Die Natur nimmt aktiv am Trauerzug teil: Nachtigallen singen Klagelieder, Sterne begleiten den Leichenzug, Tannen erscheinen als trauernde Gestalten. Diese personifizierten Elemente verstärken das düstere und geheimnisvolle Ambiente des Gedichts. Die Beschreibung des Waldes als Resonanzraum für die Litanei unterstreicht zudem die feierliche und sakrale Stimmung.
In der vierten Strophe wird die mystische Atmosphäre weiter vertieft. Elfen, die für Leichtigkeit und Tanz stehen, unterbrechen plötzlich ihr Spiel und blicken dem Zug mit Trauermienen nach. Diese Szene verstärkt den Eindruck, dass selbst die übernatürlichen Wesen von der Tragik des Todes berührt sind. Der Höhepunkt des Gedichts ist die letzte Strophe: Der Mond steigt herab, als würde er eine Rede am Grab halten. In diesem Moment verschmelzen Natur und Jenseits, Realität und Mystik. Die ferne Glocke unterstreicht das feierliche Ende der Zeremonie.
Heines Gedicht verbindet in einzigartiger Weise Romantik mit Trauer. Durch die starke Naturverbundenheit und die fast märchenhafte Inszenierung des Begräbnisses entsteht eine Mischung aus Melancholie und feierlicher Schönheit. Die Vergänglichkeit wird nicht nur als Verlust, sondern auch als Teil eines größeren, fast magischen Kreislaufs dargestellt.
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Lizenz und Verwendung
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