Heiliger Morgen
Von den Tannen träufelt Märchenduft;
Leise Weihnachtsglocken sind erklungen –
Blinkend fährt mein Hammer durch die Luft;
Denn ein Spielzeug zimmr′ ich meinem Jungen.
Graue Wolken kämpfen fernen Kampf;
Blau darüber strahlt ein harter Himmel.
Durch die Nüstern stößt den weißen Dampf
Vor der Tür des Nachbars breiter Schimmel.
Kommt Herr Doktor Schlapprian daher,
Zigaretten- und Absinthvertilger!
Voll erhab′nen Hohns lächelt er,
Hirn- und lendenlahmer Abwärtspilger.
Spöttisch grüßend schlendert er dahin
Und – verachtet mich, den blöden Gimpel,
Der gefügig spannt den dumpfen Sinn
In die Enge, ein »Familiensimpel«. –
Rote Sonne überm Schneegefild:
Und das weite Feld ein Sterngewimmel!
Und ins Auge spann ich euer Bild,
Wundererde – unerforschter Himmel.
Und den frischen, kalten, klaren Tag
Saug′ ich ein mit gierig starken Lungen –
Pfeifend trifft mein Hammer Schlag um Schlag,
Und ein Spielzeug zimmr′ ich meinem Jungen.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Heiliger Morgen“ von Otto Ernst beschreibt eine Szene am Weihnachtsmorgen, die von einer Mischung aus familiärer Freude, persönlicher Kontemplation und der Beobachtung der Außenwelt geprägt ist. Der Ich-Erzähler, ein Handwerker, widmet sich mit Hingabe der Herstellung eines Spielzeugs für seinen Sohn, während er die Atmosphäre des winterlichen Morgens und die Begegnung mit seinem Nachbarn wahrnimmt.
Die ersten beiden Strophen etablieren die weihnachtliche Stimmung und die Tätigkeiten des Erzählers. Der „Märchenduft“ der Tannen, die „Weihnachtsglocken“ und das Anfertigen des Spielzeugs wecken ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Die Beschreibung der Natur, insbesondere der „grauen Wolken“ und des „harten Himmels“, deutet auf einen Kontrast zwischen dem idyllischen Innenleben und den rauen äußeren Bedingungen. Der Kontrast wird durch die Beschreibung des „Schimmels“ des Nachbarn, der den „weißen Dampf“ ausstößt, weiter verdeutlicht.
Die dritte und vierte Strophe führen eine neue Dimension ein: die Begegnung mit Herrn Doktor Schlapprian. Dieser Mann, der als „Hirn- und lendenlahmer Abwärtspilger“ beschrieben wird, verkörpert einen zynischen Blick auf die Welt, der den Erzähler verachtet und ihn als „Familiensimpel“ abtut. Der Kontrast zwischen der weihnachtlichen Freude des Erzählers und der Spöttelnden Haltung des Doktors verdeutlicht einen Konflikt zwischen Lebensanschauungen und der Wertschätzung der Familie.
Die letzten beiden Strophen sind von einem intensiven Gefühl der Ehrfurcht vor der Natur und dem Leben geprägt. Die „rote Sonne“ und das „Sterngewimmel“ auf dem schneebedeckten Feld erzeugen ein erhabenes Bild. Der Erzähler saugt den „frischen, kalten, klaren Tag“ mit „gierig starken Lungen“ ein und setzt seine Arbeit am Spielzeug fort. Dieses zeigt, dass er sich trotz der Kritik des Doktors nicht von seinem Fokus auf die Familie und die Schönheit des Lebens abbringen lässt. Die abschließenden Zeilen, in denen der Hammer Schlag um Schlag trifft und das Spielzeug vollendet wird, unterstreichen die Bedeutung der einfachen Freuden und die Hingabe an die Familie.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.