Spaziergang
Die Sonne steht schon tief. Wir scheiden bald.
Leis sprüht der Regen. Horch! Die Meise klagt.
Wie dunkel und verschwiegen ist der Wald!
Du hast das tiefste Wort mir nicht gesagt.-
Zwei helle Birken an der Waldeswand.
Ein Spinngewebe zwischen beiden, sieh!
Wie ist es zart von Stamm zu Stamm gespannt!
Was uns zu tiefst bewegt, wir sagen’s nie.-
Fühlst du den Hauch? Ein Zittern auf dem Grund
Des Sees. Die glatte Oberfläche bebt.
Wie Schatten weht es auch um unsern Mund-
Wir haben wahrhaft nur im Traum gelebt.-
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Spaziergang“ von Hedwig Lachmann beschreibt einen stillen, beinahe melancholischen Moment des Abschieds, der von unausgesprochenen Worten und unerfüllten Sehnsüchten geprägt ist. Die erste Strophe beginnt mit dem Bild eines sich neigenden Tages – die „Sonne steht schon tief“, was auf das nahende Ende des Spaziergangs und symbolisch auf das Ende einer Beziehung oder einer wichtigen Phase im Leben hinweist. Der „leichte Regen“ und der „klagende“ Ruf der Meise schaffen eine traurige, fast schmerzliche Stimmung, während die „dunkle“ und „verschwiegen“ wirkende Natur die Innigkeit und das Unausgesprochene zwischen den beiden Protagonisten widerspiegelt. Der Vers „Du hast das tiefste Wort mir nicht gesagt“ deutet auf eine tiefe, nicht geäußerte Wahrheit hin, die zwischen den beiden steht, und auf das Versäumnis, bestimmte Gefühle oder Gedanken zu teilen.
In der zweiten Strophe erscheinen die „zwei hellen Birken an der Waldeswand“, deren Symbolik auf Reinheit und Vergänglichkeit hinweist. Das „Spinngewebe“, das „zart von Stamm zu Stamm gespannt“ ist, wird als Bild für die zerbrechliche, feine Verbindung zwischen den beiden verwendet. Die zarte Struktur des Spinnennetzes steht für das, was oft unausgesprochen und kaum fassbar bleibt – die Dinge, die uns „zu tiefst bewegen“, aber nicht ausgesprochen werden. Auch hier bleibt eine tiefe Sehnsucht unerfüllt und wird nicht in Worte gefasst, was eine innere Kluft zwischen den beiden hervorhebt.
Die dritte Strophe erweitert das Bild der Unausgesprochenheit auf die Natur und die Beziehung zwischen den beiden Figuren. Der „Hauch“ und das „Zittern auf dem Grund des Sees“ spiegeln das vage Gefühl der Unsicherheit und das stille Beben der unausgesprochenen Emotionen wider. Die „glatte Oberfläche“ des Sees wird von einem zarten Wind oder einem unsichtbaren Zittern durchzogen, was die Zerbrechlichkeit und Unbeständigkeit der Gefühle zwischen den beiden unterstreicht. Das Bild der Schatten, die „um den Mund wehen“, verweist darauf, dass auch die Worte, die nicht ausgesprochen werden, ihre Wirkung haben – sie sind wie ein unsichtbarer Druck, der die Atmosphäre verdichtet.
Die letzte Zeile des Gedichts, „Wir haben wahrhaft nur im Traum gelebt“, lässt eine tiefe Enttäuschung und das Bewusstsein einer verpassten Verbindung erkennen. Das Leben, das sie zusammen geführt haben, wird als eine Art Illusion oder Traum dargestellt – etwas, das nie wirklich realisiert oder ergriffen wurde. Lachmann vermittelt in diesem Gedicht eine Schilderung von unausgesprochenen Gefühlen, verpassten Gelegenheiten und dem schmerzhaften Wissen, dass das, was zwischen den beiden hätte sein können, niemals wirklich geworden ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.