Melancholia
Das Auge, das sich in dem Graus verliert,
Der langsam um den Erdball rast,
Wird vor Entsetzen irre und gefriert,
Wie wenn im Tod es brechend sich verglast.
Weh ohne Maß, ins unbegrenzte All
Wie ein empörtes Meer hinausgeschnellt,
Wo es mit millionenfachem Prall
An starrer Luftschicht wesenlos zerschellt!
Das ist der Erbfluch unausrottbar zäh,
Der das Geschlecht mit seinem Bann umfing,
Als in verworrnem Urtrieb dumpf und jäh
Zum ersten Mal sich Blut am Blut verging.
Aus euren Träumen wuchs der wilde Geist,
Von Höllenlicht umlodert und umqualmt,
Den mit verstörten Sinnen ihr umkreist,
Und den ihr Gott nennt, weil er euch zermalmt.
Fühllos und ohne Ohr für euer Flehn,
Tut er mit Tod und Grauen euch Bescheid
Und lässt er ohne Ende blind geschehn,
Dass ihr die Opferer und Opfer seid.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Melancholia“ von Hedwig Lachmann ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit den dunklen Aspekten des menschlichen Daseins, wie Leid, Gewalt und das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber den Unwägbarkeiten des Lebens. Zu Beginn beschreibt die Dichterin ein Auge, das sich in einem grauen, unaufhaltsamen Strom verliert, der den Erdball „langsam umrast“. Diese Unbeweglichkeit und das Bild des „verglasten“ Auges symbolisieren das Entsetzen und die Ausweglosigkeit, die das menschliche Bewusstsein ergreifen kann, wenn es sich mit der Weite des Unbekannten oder dem unausweichlichen Tod konfrontiert sieht. Die Metapher des „gefrorenen“ Auges verstärkt das Bild einer emotionalen Lähmung und einer Ohnmacht gegenüber dem existenziellen Grauen.
In der zweiten Strophe wird das Bild des „weh ohne Maß“ fortgesetzt, wobei das Bild eines „empörten Meeres“ verwendet wird, das sich „hinausgeschnellt“ in das „unbegrenzte All“. Diese gewaltsame Bewegung des Meeres gegen die „starrere Luftschicht“ steht symbolisch für den Versuch des Menschen, gegen das Unveränderliche oder die Schicksalsmächte anzukämpfen – jedoch ohne Erfolg. Der Mensch stößt gegen eine unsichtbare Grenze, die ihn zerbricht. Dies verweist auf die Idee der menschlichen Ohnmacht angesichts einer übermächtigen, unerklärlichen Kraft.
Die dritte Strophe führt das Thema weiter und spricht von einem „Erbfluch“, der das menschliche Geschlecht befallen hat. Der „Bann“ dieses Fluchs zieht sich durch die Geschichte und ist mit dem „Urtrieb“ verbunden, der „dumpf und jäh“ in der ersten Gewalt des Menschen wirkte, als „Blut am Blut verging“. Diese Zeilen deuten auf die Gewalt in der menschlichen Geschichte hin – eine endlose Wiederholung von Leid und Vernichtung, die dem Menschen mitgegeben wurde. Der Fluch wird als unausrottbar beschrieben, was darauf hinweist, dass menschliche Grausamkeit und Konflikte tief in der Natur der Menschheit verankert sind.
In der vierten Strophe wird dieser „wilde Geist“ weiter beschrieben, der aus den „Träumen“ der Menschen hervorging. Dieser Geist, der „umlodert und umqualmt“ von „Höllenlicht“, ist ein Symbol für die zerstörerische Kraft des menschlichen Begehrens und seiner inneren Dämonen. Dieser Geist wird von den Menschen „umkreist“, als ob er ein Gott wäre, was die widersprüchliche Beziehung des Menschen zu seinen eigenen schrecklichen Instinkten verdeutlicht: Die Menschen verehren und fürchten diesen Geist zugleich, weil er sie „zermalmt“.
Die letzte Strophe bringt das Gefühl der Hilflosigkeit zum Höhepunkt. Der „wilde Geist“, den die Menschen geschaffen haben, ist „fühlos“ und „ohne Ohr für euer Flehen“. Er handelt mit Tod und Grauen, und seine Handlungen scheinen ohne Ziel oder Ende zu geschehen. Der Mensch wird sowohl zum „Opfer“ als auch zum „Opferer“, was die Tragödie menschlicher Existenz und den Kreislauf von Gewalt und Leid, der die Geschichte prägt, verdeutlicht. Lachmanns Gedicht beschreibt die existenzielle Zerrissenheit des Menschen, der in seiner eigenen Schöpfung gefangen ist und einen unaufhaltsamen, selbstzerstörerischen Prozess durchlebt.
Das Gedicht vermittelt eine tiefe Melancholie und Resignation gegenüber der menschlichen Natur und dem Schicksal, das den Menschen von einem unaufhörlichen Fluch heimsucht. Lachmann beschreibt den Menschen als ein Wesen, das in seiner eigenen Dunkelheit und Gewalt gefangen ist und trotz aller Flehen und Bemühungen keinen Ausweg findet.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.