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Die Sternbaumsäge

Von

Am Sternbaum wurde merklich gesägt.
Wer weitergeht wird erschossen!
Gehn Sie nicht weiter,
Sie werden erschossen.
Obschon ich nicht weiter ging,
ich wurde erschossen.
Nichts war zu tun,
denn Preußen sind mal so.

Am Sternbaum wurde merklich gesägt.
Der Schlaf den abertausend Bürger schnarchten
das Röcheln der Entrechteten
zusammen sägten sehr laut.
Das rote Antlitz Gottes
des Häuers
der das Mondbeil schwang
wider Wucherndes
verschwand.

Am Sternbaum wurde merklich gesägt.
Acht Engel in Badehosen
rissen die Himmelstür auf,
spuckten den Pfriem aus, sagten:
„Nu?
Du erbst das Gold und allen Glanz der Tropenländer,
wackrer Briefmarkensammler;
das madengrüne Preußen unter die blaue
Käsglocke des Himmels gestülpt;
das Glück der Ausflugsorte wo die süßen Schilder stehn:
‚Hier können Familien Kaffee kochen!‘
und auch den Tod der hoch vom Mastkorb des Piraten
klabautrisch grinst.
Dein Mitleid darf sich satt an Mauerblümchen sehn,
die keinen Tanz getanzt. Für Deine Achtung
stehn achtmalhunderttausend Rentner in Parade
die niemals nicht ihr Mittagsmahl gehabt.
Dein sei Papa-Pomade-Pumpernickel-Pudding,
Du weilst wo alle Orgeln Ox-Trott spielen
Dir blüht die Nacht-Narzisse innen im Popo
zu teil wird Dir der Dolch des Bauchaufschlitzers Jack,
die Weihnacht aller Junggesellen in der Bar,
der Ehrenstandpunkt aller Länder –
und am Sternbaum wird merklich gesägt.“

Die Säge ging. Und als es Morgen war,
da stürzte mein geliebter Sternbaum
ins blinde Nichts.
Der Himmel war ein ödes graues Loch.
Ich war erloschen. Und Europa war schon tot,
es brauchte nicht zu sterben.
Auf allen Straßen gingen tote Leute,
den Zahn der Sternbaumsäge im Gesicht.

Charon, der Seefahrer einzig,
der Ferge,
der um der Sehnsucht willen
Europa gerade verlassen hatte
und in der gestohlnen Jolle
eines Atlantikdampfers
dauerskatend
mit sich selbst
von dannen trieb,
entging dem grausen Geschehn.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Sternbaumsäge von Hans Schiebelhuth

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Sternbaumsäge“ von Hans Schiebelhuth ist ein surrealistisch-apokalyptisches Werk, das in eindrucksvollen, teils grotesken Bildern den moralischen, politischen und kulturellen Verfall Europas thematisiert. Es verbindet Elemente des Dadaismus mit einer düsteren Zeitdiagnose, die sich in verzerrten Metaphern, schwarzem Humor und sprachlichen Brüchen manifestiert. Im Zentrum steht der „Sternbaum“, ein symbolisch aufgeladener Bildträger, dessen Zerstörung den Zusammenbruch einer ganzen Weltordnung markiert.

Bereits die einleitenden Zeilen weisen auf eine kafkaeske Absurdität hin: Obwohl das lyrische Ich nicht „weiter ging“, wurde es dennoch „erschossen“. Diese Szene ist exemplarisch für die herrschende Willkür und Gewalt – es gibt keine Gerechtigkeit, keine Flucht, nur Ohnmacht. Die Formulierung „denn Preußen sind mal so“ spielt auf ein unterkühltes, obrigkeitshöriges System an, das für Repression, Militarismus und seelenlose Bürokratie steht. Der Sternbaum selbst scheint eine Art Sinnbild für Hoffnung, Ordnung oder kulturellen Glanz zu sein, dessen Zersägung eine Katastrophe einleitet.

Im zweiten Abschnitt verdichtet sich die Allegorie: Die kollektive Schlaftrunkenheit der Bürger, das „Röcheln der Entrechteten“ und das Verschwinden des „roten Antlitzes Gottes“ verweisen auf ein moralisches Versagen, eine Art Endzustand bürgerlicher und politischer Dekadenz. Der „Häuer“, der mit dem „Mondbeil“ gegen das „Wuchernde“ kämpft, verschwindet – es gibt keine reinigende Gerechtigkeit mehr, kein göttliches Eingreifen. Stattdessen übernehmen grotesk verzerrte Engel in Badehosen die Verkündung einer zynischen Erbschaft, die das gesamte westliche Lebensgefühl parodiert.

Diese absurde „Verheißung“ – bestehend aus Billigkultur, Konsumversprechen, Wohlstandsmüll und makabrem Tod – stellt eine beißende Satire auf das kulturelle Erbe des Westens dar. Alles wird aufgelistet, von Kolonialträumen bis zu Kaffeeausflügen, von sozialer Geste bis zu perverser Vereinsamung. Der Text kulminiert in einer verqueren Litanei, die mit ironischem Ernst die völlige Entwertung von Sinn und Identität beschreibt. Der Sternbaum, Symbol des einstigen Ideals, stürzt schließlich „ins blinde Nichts“, Europa ist bereits tot, bevor es stirbt – ein Bild totaler Ausweglosigkeit.

Am Ende entzieht sich nur eine Figur dem Untergang: Charon, der mythologische Fährmann, wird zum absurden Einzelgänger, der „dauerskatend mit sich selbst“ über das Meer treibt. Er ist Sinnbild der Sehnsucht nach Entkommen, aber auch der letzten Entfremdung. In dieser Szene wird die völlige Loslösung von Sinn, Richtung und Gemeinschaft spürbar.

„Die Sternbaumsäge“ ist ein radikaler Abgesang auf das kulturelle Selbstbild Europas. Das Gedicht vereint Elemente von Groteske, Anklage, Trauer und Spott. Es ist eine poetische Vision des Verfalls – kraftvoll, verstörend und kompromisslos in seiner Bildsprache.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

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