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Justinus Kerner

Von

Dein Lied ist rührend, edler Sänger,
Doch zürne dem Genossen nicht,
Wird ihm darob das Herz nicht bänger,
Das, dir erwidernd, also spricht:

„Die Poesie ist angeboren,
Und sie erkennt kein Dort und Hier!
Ja, ging die Seele mir verloren,
Sie führ‘ zur Hölle selbst mit mir.

Inzwischen sieht’s auf dieser Erde
Noch lange nicht so graulich aus,
Und manchmal scheint mir, dass das Werde!
Ertön‘ erst recht dem „Dichterhaus“.

Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen
Und spannt Eliaswagen an;
Willst träumend du im Grase singen,
Wer hindert dich, Poet, daran?

Ich grüsse dich im Schäferkleide,
Herfahrend – doch mein Feuerdrach‘
Trägt mich vorbei, die dunkle Heide
Und deine Geister schaun uns nach.

Was deine alten Pergamente
Von tollem Zauber kund dir tun,
Das seh‘ ich durch die Elemente
In Geistes Dienst verwirklicht nun.

Ich seh‘ sie keuchend glühn und sprühen,
Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,
Indes das Menschenkind zu blühen
Und singen wieder Musse hat.

Und wenn vielleicht in hundert Jahren
Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein
Durchs Morgenrot käm‘ hergefahren
Wer möchte da nicht Fährmann sein?

Dann bög‘ ich mich, ein sel’ger Zecher,
Wohl über Bord von Kränzen schwer,
Und gösse langsam meinen Becher
Hinab in das verlassne Meer.“

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Justinus Kerner von Gottfried Keller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Justinus Kerner“ von Gottfried Keller ist eine poetische Auseinandersetzung mit dem romantischen Dichtertum, wie es Justinus Kerner verkörpert, und dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts. In Form eines imaginären Gesprächs zwischen dem Sprecher und dem „edlen Sänger“ Kerner kontrastiert Keller die träumerisch-gefühlsbetonte Haltung der Romantik mit einem modernen, zukunftsgewandten Weltbild, das Technik und Entwicklung nicht als Widerspruch zur Poesie, sondern als neue Inspirationsquelle versteht.

Der erste Teil richtet sich respektvoll an Kerner: Seine Dichtung sei „rührend“ und edel, doch der Sprecher – selbst ein Dichter – fühlt sich davon nicht beengt. Im Gegenteil: Auch seine Poesie sei ihm „angeboren“, und sie kenne keine Grenzen. Die Zeile „Sie führ’ zur Hölle selbst mit mir“ unterstreicht die existentielle Tiefe des dichterischen Impulses – nicht als Flucht, sondern als Begleiter durch alle Lebenslagen. Damit setzt Keller seinerseits ein starkes, fast trotziges Bekenntnis zur Dichtung.

Während Kerner in der romantischen Tradition verwurzelt ist – geprägt von Naturmystik, Sehnsucht und Geisterwelt –, sieht Keller den dichterischen Geist als Triebkraft des Fortschritts. Die Metaphern des „Feuerdrachens“, der „Sturmesschwingen“ und des „Eliaswagens“ stehen für die Energie und Dynamik moderner Entwicklungen. Der Dichter soll nicht nur im „Gras“ träumen, sondern die Welt mitgestalten – mit Fantasie, aber auch mit Erkenntnis.

Keller erkennt in der Industrialisierung und dem technischen Fortschritt eine neue Form von Poesie: Die glühenden, stahlschimmernden Elemente der modernen Welt sind Ausdruck eines gelebten „Geisterdienstes“. In ihnen blüht auch das Menschenkind neu auf, findet Zeit zur Muße, zur Freude und zur Rückkehr zur Kunst – ein optimistischer Ausblick, der romantisches Empfinden mit gesellschaftlichem Fortschritt zu versöhnen versucht.

Die letzte Strophe schließt das Gedicht mit einer utopischen Vision: Ein Luftschiff, beladen mit „Griechenwein“, segelt durch das Morgenrot – ein Bild, das klassische Antike, Natur und Technik poetisch vereint. Der Dichter, nun ein „sel’ger Zecher“, gießt seinen Becher ins „verlassne Meer“ – eine Geste der Erinnerung, vielleicht auch des Abschieds an das alte romantische Weltbild.

„Justinus Kerner“ ist damit ein poetisches Manifest, in dem Gottfried Keller den Weg von der alten zur neuen Dichtung skizziert. Mit Respekt, aber auch kritischer Distanz gegenüber der Romantik, stellt er dem nostalgischen Rückzug eine offene, zukunftsfreudige Poesie entgegen – eine, die das Leben nicht verklärt, sondern gestaltet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.