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Westindien

Von

Die Welt ist braune und weiße Erde;
Komm, wir teilen die Welt!
Nimm den Westen hin, daß ich Osten werde
Und felsig aufbreche, du Feld.

In meinem Becher von Jade will
Seltsam kostbare Freuden ich finden,
Die Freuden aus Hyazinth und Beryll
Um meine Hüfte winden,

Die Aprikose chinesischer Seide
Mit pflaumendunklen, sehr weichen Schuhn
Und den Bienenstachel in flimmernder Scheide,
Einen kleinen Dolch, zu mir tun.

Ich laß an der Mauer, die steinern liegt,
Blicke wie Blumen ranken,
Über den Weg, der in Wüste versiegt,
Und in des Mannes Gedanken…

Und so erwächst mit den Tagen die Beere,
Schlafende Frucht, das singende Land.
Westindien! Spielkind jenseits der Meere
Mit Eimern voll goldenem Sand !

Mit deiner Steppe gräsernem Hauch,
Der großen Büffel witternden Nüstern
Und des Wapiti hörnenem Strauch,
Mit Flammentänzen in Rüstern !

Ich habe die blitzend fliehnden Agraffen,
Winzige Schmuckvögel dir gezähmt,
Mit Pumas, mit pelzigen Goldstirnaffen
Den reichen Mantel verbrämt.

Um deine Schläfe kriecht der Reif
Smaragdener Leguane,
Araraschweif an Araraschweif
Rollt über dein Haupt die Fahne.

Mein Herz hat die brüllende Flut gegriffen,
Die Flut, das riesig schaummähnige Tier,
Und lädt ihm die Bürde aus tausend Schiffen,
Lächelnd von mir zu dir.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Westindien von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Westindien“ von Gertrud Kolmar entfaltet eine poetisch-imaginäre Welt zwischen Osten und Westen, zwischen Natur, Exotik und innerer Sehnsucht. In einer Mischung aus sinnlicher Bildkraft und fast traumhafter Imagination entwirft das lyrische Ich ein Gegenbild zur rationalen Weltordnung, in dem Natur, Körperlichkeit und kulturelle Vielfalt miteinander verschmelzen. Der Titel verweist auf koloniale Assoziationen, doch statt einer konkreten politischen Auseinandersetzung wird hier eine poetische Aneignung fremder Welten versucht.

Die Aufteilung der Welt in „braune und weiße Erde“ sowie die Einladung „Komm, wir teilen die Welt!“ markieren ein zentrales Motiv: die symbolische, fast spielerische Eroberung des Fremden durch Vorstellungskraft. Dabei steht der Osten für das Wilde, Urtümliche, das sich „felsig aufbreche[n]“ will, während der Westen eine Art Gegenpol bildet. Es ist ein Dialog zwischen kulturellen Sphären, doch kein kolonialistischer, sondern ein zutiefst subjektiver, sinnlicher Zugang zu anderen Räumen und Seinsweisen.

Kolmar verwendet eine Vielzahl exotischer und sinnlich aufgeladener Bilder: Jade, Hyazinth, Beryll, Seide, Schmuckvögel und Leguane. Diese Details erschaffen ein üppiges, fast überladenes Bild einer Naturwelt, die gleichzeitig fremd und verlockend erscheint. Der „kleine Dolch“ und der „Bienenstachel“ deuten auf eine Mischung aus Zartheit und Wehrhaftigkeit, aus Weiblichkeit und Gefahr hin – das lyrische Ich entwirft sich selbst als kraftvolle, zugleich geheimnisvolle Figur in einer mythisch aufgeladenen Landschaft.

„Westindien“ wird so zum Inbegriff eines kindlich-spielerischen, aber auch zutiefst kreativen Fantasieraums – ein Ort jenseits der Meere, jenseits der Konvention. Die Natur erscheint nicht als Kulisse, sondern als Spiegel innerer Bewegtheit und Sehnsucht. Das lyrische Ich greift nach der „brüllenden Flut“ wie nach einer Urkraft und schenkt diese weiter – ein symbolischer Akt der Verbundenheit, der nicht auf Besitz, sondern auf Austausch und Hingabe zielt.

Insgesamt lässt sich das Gedicht als eine Feier der Imagination lesen, als visionäre Erschaffung einer Gegenwelt, in der kulturelle Grenzen aufgehoben und neue Identitäten erträumt werden. Kolmar gelingt es, koloniale Bilder in poetische Metaphern umzudeuten und sie für eine weibliche Selbstbehauptung und kreative Selbsterschaffung nutzbar zu machen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.