Wappen von Berlin
In Silber, aufgerichtet, ein schwarzer Bär.
Die Bärin spricht: Ich habe sie getragen,
Die Stadt in meinem Schoße, Höhlenbrut.
Uns kam der Jäger, und ich musst ihn schlagen.
Ihr Schlaf in dickverschneiten Wäldertagen
War gut.
Ich wiegte sie mit diesem tiefen Brummen;
Mein Tatzenschlag hieß sanft, doch ernst sie stehn.
Ich leerte Honigwachs, wo Bienen summen,
Und süßes Kraut in erdgeformten Kummen
Sie sehn.
Den Klotz, die mörderische Eisenklemme,
Den Grubentrug – denn Menschenlist ist viel –
Verklagt ich ihr. Und zeigte braune Schwämme,
Gab graue Kiesel ihr und Kiefernstämme
Zum Spiel.
So wuchs sie auf und fand das Nest der Bienen:
Nun häuft sie übermütig bunten Stein,
Und ihre Pranke scherzt mit blanken Schienen,
Lässt, klein und trüb, Insekten fliehn auf ihnen
Und fängt sie ein.
Sie droht und lockt. Die Forste hallen wider.
Das Singen unterm Bauerndach verstummt.
Sie tappt ins Dorf. Das Buschwerk stampft sie nieder,
Den weißen Spierstrauch und den blauen Flieder,
Und brummt.
Ich schreite aufrecht. Meine Branten wälzen
Den Wolkenblock, der überm Haupt ihr kracht.
Und silbern eisige Gestirne schmelzen
Als große Flocken mir auf schwarzen Pelzen
In Winternacht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wappen von Berlin“ von Gertrud Kolmar thematisiert die Geschichte einer Stadt, die symbolisch durch die Figur des Bären und seiner Bärin repräsentiert wird. Zu Beginn des Gedichts wird der schwarze Bär als ein starkes, erhabenes Symbol für die Stadt Berlin eingeführt. Die Bärin spricht davon, wie sie die Stadt in ihrem Schoß getragen hat, was sowohl eine schützende als auch eine gebärende Rolle symbolisiert. Ihr Kampf mit dem Jäger – eine Metapher für die Herausforderungen, die Berlin in seiner Geschichte durchleben musste – unterstreicht den Widerstand und die Unabhängigkeit, die der Stadt innewohnen.
Die zweite Strophe zeigt eine Zeit der Fürsorge und des Wachstums. Die Bärin wiegt die Stadt „mit tiefem Brummen“, was eine ruhige, aber dennoch kraftvolle Unterstützung darstellt. Das Bild des „Tatzenschlags“, der „sanft, doch ernst“ ist, weist auf die innere Stärke und die Bereitschaft hin, zu kämpfen, wenn es notwendig ist, ohne dabei die zärtliche Pflege zu verlieren. Die Bienen und das süße Kraut repräsentieren die Fruchtbarkeit und das Leben, das in Berlin wächst, während die „erdgeformten Kummen“ für die Erde und die natürlichen Ressourcen stehen, aus denen die Stadt genährt wird.
In der dritten Strophe wird der Konflikt zwischen der Stadt und den menschlichen Einflüssen dargestellt. Der Bär verklagt die „mörderische Eisenklemme“ und den „Grubentrug“, was die Zerstörung der Natur und die Manipulation durch den Menschen symbolisiert. Die „braunen Schwämme“ und „grauen Kiesel“ sind Bilder für das natürliche, aber auch raue Material, das der Stadt begegnet, während die „Kiefernstämme“ das natürliche Wachstum und die Beständigkeit darstellen. Die Bärin schützt die Stadt vor den gefährlichen Einflüssen des menschlichen Eingriffs, was eine Art Verteidigung der natürlichen Welt und ihrer Ressourcen symbolisiert.
Die vierte Strophe beschreibt das Wachstum der Stadt und ihre zunehmende Selbstständigkeit. Die „Pranke“ der Bärin, die nun mit „blanken Schienen scherzt“, symbolisiert die Industrialisierung und den technischen Fortschritt, den die Stadt durchlebt. Doch gleichzeitig ist dies ein ambivalentes Bild: Die Stadt ist nun größer, stärker, aber auch in gewisser Weise entfremdet von ihren natürlichen Ursprüngen. Die „Insekten“, die auf den Schienen fliehen, könnten als Symbol für das Leben und die Lebendigkeit stehen, die in der Stadt durch den technischen Fortschritt und die Urbanisierung bedroht werden.
In der letzten Strophe wird eine düstere, fast apokalyptische Vision von Berlin gezeigt. Die Bärin droht und lockt, während die „Forste widerhallen“ und das Singen unter dem „Bauerndach verstummt“. Dies könnte auf die Entfremdung von der Natur und den Verlust von Traditionen und ländlicher Idylle hinweisen, während die Stadt in ihren modernen, industrialisierten Zustand übergeht. Die „weißen Spiersträucher“ und der „blaue Flieder“, die niedergetrampelt werden, symbolisieren die Zerstörung von Schönheit und Leben, um Platz für den städtischen Fortschritt zu schaffen. Die Bärin, die „stampft“ und „brummt“, wird zur metaphorischen Darstellung der Stadt, die sich zunehmend von ihrer Natur entfernt.
Kolmar nutzt in „Wappen von Berlin“ eine kraftvolle Metaphorik, um die Entwicklung und die Herausforderungen der Stadt darzustellen. Der Bär und seine Bärin sind Symbole für den Schutz und die Stärke Berlins, aber auch für die Konflikte, die mit der Industrialisierung, dem technischen Fortschritt und der Entfremdung von der Natur einhergehen. Das Gedicht ist eine Reflexion über die Gewalt der Veränderung und den Verlust von ursprünglicher Schönheit und Leben, das durch den ständigen Drang nach Wachstum und Modernisierung beeinträchtigt wird.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.