Trauerspiel
Der Tiger schreitet seine Tagesreise
Viel Meilen fort.
Zuweilen gegen Abend nimmt er Speise
Am fremden Ort.
Die Eisenstäbe, alles, was dahinter
Vergeht und säumt,
Ist Schrei und Stich und frostig fahler Winter
Und nur geträumt.
Er gleitet heim: und mußte längst verlernen,
Wie Heimat sprach.
Der Käfig stutzt und wittert sein Entfernen
Und hetzt ihm nach.
Er flackert heller aus dem blinden Schmerze,
Den er nicht nennt,
Nur eine goldne rußgestreifte Kerze,
Die glitzernd sich zu Tode brennt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Trauerspiel“ von Gertrud Kolmar ist eine kraftvolle und symbolisch aufgeladene Darstellung von Einsamkeit, Verlust und dem Schmerz eines eingeschlossenen Wesens. Der Tiger, der seine „Tagesreise“ schreitet, wird zum Symbol für das wilde, ungezähmte Leben, das von einem festen, jedoch belastenden Rahmen eingegrenzt wird. Die „Eisenstäbe“ stehen für die Grenzen, die ihm gesetzt werden, und die „fremden Orte“ für die Entfremdung, die der Tiger auf seiner Reise erfährt.
Der zweite Vers, in dem von „Schrei und Stich“ die Rede ist, spricht von den Qualen, die mit der Eingesperrtheit und dem Verlust der Freiheit einhergehen. Die Welt hinter den „Eisenstäben“ wird als ein kalter, schmerzhafter Ort beschrieben – ein „frostig fahler Winter“, der mehr wie ein Traum erscheint, als eine reale Erfahrung. Der Tiger wird zu einem Opfer der eigenen Gefangenheit, das in einem Zustand zwischen Realität und Illusion verharrt.
Die Rückkehr des Tigers wird von Kolmar als Verlust der Heimat beschrieben. „Er mußte längst verlernen, / Wie Heimat sprach.“ Dies weist darauf hin, dass der Tiger seine Ursprünge, seine wahre Freiheit und Identität verloren hat, weil er sich einer künstlichen Ordnung unterwerfen musste. Der Käfig, der sich erneut schließt, scheint mehr und mehr als ein unaufhaltsames Schicksal, das dem Tiger keine wirkliche Flucht lässt. Der ständige Verweis auf das Entfernen und Nachhetzen deutet an, dass der Tiger in seiner Gefangenschaft nicht entkommen kann, auch wenn er versucht, zu entfliehen.
Das Gedicht endet mit einem kraftvollen Bild der Zerrüttung und des Verfalls: „Eine goldne rußgestreifte Kerze, / Die glitzernd sich zu Tode brennt.“ Die „Kerze“ symbolisiert hier das Leben des Tigers, das in seiner Schönheit und Wildheit erlischt, während es zugleich von innen heraus verbrennt. Der Tiger hat zwar noch das Glühen seiner einstigen Stärke, aber dieses Glühen führt zur Zerstörung. Es ist ein Bild für den schmerzhaften Verlust von Freiheit, das letztlich zu einem unaufhaltsamen Verblassen führt. Kolmar beschreibt auf eindrucksvolle Weise den tragischen Zustand des Eingesperrtseins und die damit verbundene Zerrissenheit des Wesens, das seine wahre Natur nicht mehr leben kann.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.