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Meerwunder

Von

Als ich das Kind mit grünen Augensternen,
Dein zartes, wunderbares Kind empfing,
Erbrausten salzge Wasser in Zisternen,
Elmsfeuer funkelten aus Hoflaternen,
Und Nacht trug den Korallenring.

Und deiner Brust entwehte Algenmähne
So grün, so grün mit stummer Melodie.
Sehr sachte Fluten plätscherten um Kähne,
Im schwarzen Traumschilf sangen große Schwäne,
Und nur wir beide hörten sie.

Du warst den Meeren mitternachts entstiegen
Mit eisig blankem, triefend kühlem Leib.
Und Wellenwiegen sprach zu Wellenwiegen
Von unserm sanften Beieinanderliegen,
Von deinen Armen um ein Weib.

Seejungfern hoben ungeschaute Tänze,
Und wilde Harfen tönten dunkel her,
Und Mond vergoß sein silbernes Geglänze
Um den Perlmutterglast der Schuppenschwänze;
Mein Linnen duftete vom Meer.

Und wieder wachten Hirten bei den Schafen
Wie einst… und glomm ein niebenannter Stern.
Und Schiffe, die an fremder Küste schlafen,
Erbebten leis und träumten von dem Hafen
Der Heimat, die nun klein und fern.

Tierblumen waren fächelnd aufgebrochen,
In meinen Schoß verstreut von deiner Hand;
Um meine Füße zuckten Adlerrochen,
Und Kinkhorn und Olivenschnecke krochen
Auf meiner Hüfte weißen Sand.

Und deine blaß-beryllnen Augen scheuchten
Gekrönte Nattern heim in Felsenschacht,
Doch Lachse sprangen schimmernder im Feuchten;
An Wogenkämmen sprühte blaues Leuchten
Wie aus dem Rabenhaar der Nacht.

Oh du! Nur du! Ich spülte deine Glieder
Und warb und klang und schäumte über dir.
Und alle Winde küßten meine Lider,
Und alle Wälder stürzten in mich nieder,
Und alle Ströme mündeten in mir.

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Gedicht: Meerwunder von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Meerwunder“ von Gertrud Kolmar ist eine rauschhafte, symbolistisch aufgeladene Beschwörung einer geheimnisvollen, tief sinnlichen Liebeserfahrung, die sich in einer traumhaft-mythischen Meereswelt entfaltet. Kolmar verbindet in diesem Text weibliche Körperlichkeit mit Natur- und Meeresmotiven, um eine Verschmelzung von Liebesbegegnung, Geburt und Schöpfung zu inszenieren.

Bereits in der ersten Strophe wird mit der Geburt eines „zarten, wunderbaren“ Kindes ein Moment der Schöpfung angedeutet, der jedoch nicht nur biologisch zu verstehen ist, sondern auch als poetischer oder seelischer Akt. Die Welt ringsum reagiert auf dieses Ereignis: Wasser tobt, Licht flackert, die Nacht trägt „den Korallenring“ – ein Symbol für mystische Verlobung oder Initiation. Das Meer erscheint hier als archaischer Ursprung, der sowohl Leben spendet als auch das Geheimnisvolle verkörpert.

Die folgenden Strophen entfalten ein intensives Sinneserlebnis. Der Geliebte wird als Wesen aus der Tiefe des Meeres beschrieben, ein nächtlich-kühler, fast übernatürlicher Liebhaber. Die Natur – insbesondere das Wasser – reagiert auf die intime Vereinigung: Schwäne singen, Seejungfern tanzen, der Mond versilbert die Szenerie. Das Liebeserlebnis erscheint wie ein Ritual, das nicht nur die Körper, sondern auch die Elemente miteinander verbindet. Die Bildsprache ist märchenhaft, beinahe visionär: Tierblumen, Schuppenschwänze, leuchtende Wogen.

Besonders auffällig ist Kolmars poetischer Zugriff auf weibliche Selbstermächtigung. Das lyrische Ich ist nicht bloß empfangend, sondern wird selbst zum Element: „Ich spülte deine Glieder / Und warb und klang und schäumte über dir“. Die Frau wird eins mit dem Meer – sie ist nicht nur Geliebte, sondern zugleich Ursprung, Bewegung, Klang, Strömung. Die letzte Strophe kulminiert in einer ekstatischen Auflösung aller Trennungen zwischen Körper, Natur und Gefühl: „Und alle Ströme mündeten in mir.“

„Meerwunder“ ist somit ein hymnischer Lobgesang auf die weibliche Sinnlichkeit, die in ihrer Verbindung mit mythischer Naturgewalt eine geradezu göttliche Dimension annimmt. Es ist ein Gedicht über Liebe, Geburt, Transformation – voller Sehnsucht, Kraft und Schönheit, das in seinen Meeresbildern eine tief symbolische Sprache für das Unsagbare findet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.