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Krähen

Von

Ich will den Tag verbringen in den Feldern,
Will lächerlich wie jene Scheuche stehn;
Die großen Vögel möchten aus den Wäldern
Auch so auf mein Gewand herniederwehn,

Um Schultern krallen, flüstern in mein Ohr
Aus Mären, die im grünen Buch sie lasen,
Von Hugin und von Munin, Tyr und Thor,
Von Yggrasill dem Weltenbaum der Asen,

Und von der Väter Dienstwerk beim Adepten,
Des Roten Leuen Sud, dem Blumengift,
Der Mauerspalte, drein sie bergend schleppten
Des siechen Herrn geheim erfundne Schrift,

Und anderes Gewinde, blumig kraus,
Altfränkisch duftend wie Levkojenblüten,
Was ihnen nachtrab schrieb und Fledermaus
Und was sie selbst in klugen Häuptlein hüten.

Doch manche würden gleich die Scholle hacken
um meine Füße, die zum Kosten lädt
So wie ein Würzbrot, feucht und frisch vom Backen,
Bereitet mit dem blanken Feldgerät,

An weißen mandeln und dem Zitronat,
An Engerlingen sich und Würmern letzen,
Der Süße endlich satt zu Rast und Rat
Und schweigend sich auf meine Hände setzen.

Und einmal schlügen Schwärme, Riesenwehe,
Den wilden Flug aus Mitternacht mir nah
Mit harten Liedern, die nur ich verstehe,
In ihrem scharfen, ungefügen Krah,

Mit unheilvollem Braus im düstren Kleid
Und mit erzürntem, drohendem Bewegen;
So fielen sie in gotteslose Zeit
Und auf die Länder als ein schwarzer Regen,

Die Welt verstummte. Bis der Weiler stöhnte.
Und weithin klagte heulend eine Stadt
Zerfreßnes Auge, das den Vater höhnte
Und seiner Mutter Herz verstoßen hat.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Krähen von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Krähen“ von Gertrud Kolmar verwebt auf eindrucksvolle Weise nordische Mythologie, Naturbeobachtung und apokalyptische Visionen zu einem komplexen Bild weiblicher Selbstverortung in einer zerrissenen, geschichtsträchtigen Welt. Die Krähen erscheinen dabei nicht nur als Tiere, sondern als Wissensboten, Mahner und dunkle Vorzeichen einer tiefgreifenden Störung der Weltordnung.

Zunächst begibt sich das lyrische Ich in eine Position der Beobachtung: Es will „lächerlich wie jene Scheuche“ in den Feldern stehen, ein stilles, fast demütiges Bild. Doch hinter dieser scheinbaren Harmlosigkeit steckt eine große Sehnsucht nach Verbindung mit tieferem Wissen. Die Krähen sollen auf das Ich herabkommen und ihre Geschichten erzählen – von germanischen Göttern wie Tyr und Thor, vom Weltenbaum Yggdrasil, von Hugin und Munin, Odins Raben. Das lyrische Ich sehnt sich nach einem Zugang zu alten, geheimnisvollen Wahrheiten, nach der verlorenen Sprache der Mythen und einer Zeit, in der Wissen noch von Tieren, Symbolen und Rätseln getragen wurde.

Neben dem mythologischen Wissen treten auch alchemistische und okkulte Bilder: „Der Rote Leu“, „des siechen Herrn geheim erfundne Schrift“. Es geht um verborgenes, gefährliches Wissen, das nicht rational, sondern symbolisch und körperlich erfahrbar ist. Die Krähen werden zu Vermittlern zwischen Welten – sie kennen alte Geschichten, aber auch düstere Geheimnisse. Gleichzeitig haben sie einen ganz irdischen, fast morbiden Hunger: sie „letzen“ sich an Engerlingen, Würmern, an der süßen Erde, die das Ich symbolisch anbietet – als Opfer oder Einladung.

In den letzten Strophen verändert sich die Stimmung radikal. Die Krähen werden zum Vorboten einer apokalyptischen Wende. In Schwärmen, „mit unheilvollem Braus“, schlagen sie aus Mitternacht heran. Ihre Lieder sind hart, drohend, verständlich nur für das lyrische Ich. Die Welt verstummt unter diesem schwarzen Regen, es kommt zur Katastrophe: Städte heulen, ein Weiler stöhnt, ein Auge – vielleicht das Gewissen der Welt – ist „zerfressen“. Es ist, als hätte die Welt selbst ihre moralische Ordnung verloren, Vater und Mutter – Sinnbilder der Herkunft und Bindung – werden verraten.

„Krähen“ ist ein vielschichtiges, hochsymbolisches Gedicht über Einsamkeit, Erinnerung, Wissen und Untergang. Das lyrische Ich erscheint als Mittlerin zwischen Zeiten und Zuständen: halb Opfer, halb Eingeweihte. Kolmar verbindet in dichter Sprache Naturbild, Mythos und Zivilisationskritik – und schafft so ein düsteres Panorama des Menschen zwischen Wissen und Untergang.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.