Grabschrift
Buntgefleckte Laster ducken Knechte,
Reißen Beute hin mit Zahn und Krallen;
Aber er, der Reine, der Gerechte,
Ward gezeugt, als Opferlamm zu fallen.
Daß er wuchs und siegte, schien ein Greuel,
Untat, die der Weltengang verkehrte,
Schauderanblick, Basiliskenknäuel,
Das sie schreckte, bannte und verzehrte,
Und sie rasten, angstbesessne Herde,
Und erschlugen ihn mit Totenbeinen,
Stampften ihn in Kehricht, Kalk und Erde.
Immer sie, die Vielen. Ihn, den Einen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Grabschrift“ von Gertrud Kolmar thematisiert das Opfer eines „Reinen“ und „Gerechten“, der in einem Akt der Gewalt von der Welt verstoßen und zerstört wird. Die ersten beiden Verse stellen einen Gegensatz zwischen den „buntgefleckten Lastern“ und dem „Reinen“ dar. Während die Lastern als „Knechte“ dargestellt werden, die „Beute“ mit „Zahn und Krallen“ reißen, wird der Gerechte als ein „Opferlamm“ gezeugt, das für die Welt bestimmt ist, um zu fallen. Diese Darstellung des Gerechten als Opfer bringt eine religiöse Dimension ins Gedicht, das auf das Bild von Christus als unschuldigem Opfer anspielt.
Die zweite Strophe beschreibt die dunkle Reaktion der Welt auf den „Gerechten“. Sein Wachstum und Sieg erscheinen als „Greuel“, und seine Taten werden von der Welt als „Untat“ und „Schauderanblick“ wahrgenommen. Die „Basiliskenknäuel“ symbolisieren eine bedrohliche, nahezu mystische Kraft, die in der Welt agiert und die Wahrheit des Gerechten ablehnt. Die Welt reagiert mit Angst und Abscheu, was in der „rasten, angstbesessnen Herde“ und der Bildsprache des „Bannens“ und „Verzehrens“ zum Ausdruck kommt. Hier wird das Bild eines nicht nachvollziehbaren, chaotischen Widerstands gegen das Gute erschaffen.
Die letzte Strophe schildert die Zerstörung des Gerechten durch die Welt. Die „Viele“ – die Masse – erschlägt den Einen, der sich von der Welt abhebt, indem sie ihn mit „Totenbeinen“ verstümmeln und in „Kehricht, Kalk und Erde“ stampfen. Das Bild des „Kehrichts“ und „Kalks“ verstärkt das Bild der Entwürdigung und der Vergessenheit, in die der Gerechte gestürzt wird. Es ist die Darstellung einer Welt, die sich gegen das Gute und Wahre auflehnt, ihn in die Dunkelheit verbannt und dadurch die symbolische Trennung von dem Einen und den Vielen unterstreicht.
„Grabschrift“ vermittelt eine dunkle Vision von der menschlichen Gesellschaft und ihrem Umgang mit dem Guten und Gerechten. Kolmar verwendet starke, religiös aufgeladene Bilder, um das Opfer und die Ablehnung des „Reinen“ durch eine gewalttätige Welt darzustellen. Die Kluft zwischen dem Einen und den Vielen wird als ein tiefer Konflikt beschrieben, der sowohl im individuellen als auch im universellen Maßstab stattfindet und den Opfercharakter des Gerechten in seiner vollen Tragweite offenbart.
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Lizenz und Verwendung
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