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Du

Von

Du. Ich will dich in den Wassern wecken!
Du. Ich will dich aus den Sternen schweißen!
Du. Ich will dich von dem Irdnen lecken,
Eine Hündin! Dich aus Früchten beißen,
Eine Wilde! Du. Ich will so vieles –
Liebes. Liebstes. Kannst du dich nicht spenden?
Nicht am Ende des Levkojenstieles
Deine weiße Blüte zu mir wenden?

Sieh, ich ging so oft auf harten Wegen,
Auf verpflastert harten, bösen Straßen;
Ich verdarb, verblich an Glut und Regen,
Schluchzend, stammelnd:“…über alle Maßen…“
Und die Pauke und das Blasrohr lärmten,
Und ich kam mit einer goldnen Kette,
Tanzte unter Lichtern, die mich wärmten,
Schönen Lichtern auf der Schädelstätte.

Und ich möchte wohl in Gärten sitzen,
Auch den Wein wohl trinken aus der Kelter,
Doch die Lider klafften, trübe Ritzen,
Und ich ward in Augenblicken älter.
Und auf meinen Leichnam hingekrochen
Ist die Schnecke träger Arbeitstage,
Zog den Schleimpfad dünner grauer Wochen,
Schlaffer Freude und geringer Plage.

In den Wäldern bin ich umgetrieben.
Ich verriet den Vögeln deinen Namen,
Doch die Vögel sind mir ferngeblieben;
Wenn ich weinte, zirpte keiner: Amen.
Und die Scheckenkühe an den Rainen
Grasten fort mit seltnem Häupterheben.
Da entfloh ich wieder zu den Steinen,
Die mir dieses Kind, mein Kind nicht geben.

Einmal muß ich noch im Finstren kauern
Und das Göttliche zu mir versammeln,
Es beschwören durch getünchte Mauern,
Seinem Ausgang meine Tür verrammeln,
Bis zum bunten Morgen mit ihm ringen.
Ach, es wird den Segen nimmer sprechen,
Nur mit seinem Schlag der erznen Schwingen
Diese flehnde Stirn in Stücke brechen…

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Du von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Du“ von Gertrud Kolmar ist ein leidenschaftlicher, schmerzerfüllter Monolog, der in eindringlicher Sprache von der Sehnsucht nach einer unerreichbaren, fast mythisch überhöhten Gestalt spricht – dem „Du“, das Ziel, Hoffnung und letztlich auch Ursache von Verzweiflung ist. Das lyrische Ich tritt in einen intensiven Dialog mit dieser unerreichbaren Instanz, die sowohl geliebt als auch angeklagt wird. Die Sprache ist dabei roh, direkt und zugleich von hoher poetischer Bildkraft.

Bereits der Beginn ist eruptiv: Das dreifach wiederholte „Du“ wirkt wie ein Beschwörungsruf. Die Ich-Figur will das „Du“ aus allen Elementen der Welt herausreißen – aus Wasser, Sternen, Erde, Früchten. Die Sprache oszilliert zwischen Zärtlichkeit und Wildheit, zwischen dem Wunsch nach Vereinigung und dem Ausbruch existenzieller Begierde. Die Bilder – eine Hündin, eine Wilde – sprechen von archaischer, entgrenzter Leidenschaft. Doch dieser Wille zur Nähe trifft auf ein verschlossenes Gegenüber: Die „weiße Blüte“ bleibt abgewandt.

In der zweiten und dritten Strophe entfaltet sich ein Lebensweg, der von Schmerz, Entfremdung und innerer Zerrissenheit geprägt ist. Der Weg führt durch „harte Straßen“, durch Leid, Ekel und eine deformierte Welt, in der das lyrische Ich sich verlor. Die bildreiche Sprache beschreibt Momente sozialer Maskerade („goldne Kette“, „Schädelstätte“), den Wunsch nach Ruhe und Schönheit („in Gärten sitzen“), aber auch die Erfahrung des Alterns, des Ausgebranntseins, der lähmenden Routine („Schnecke träger Arbeitstage“).

In den letzten Strophen verdichtet sich die Einsamkeit. Selbst in der Natur – bei den Vögeln, den Kühen, den Steinen – findet das lyrische Ich keinen Trost, kein Echo, keine Antwort auf seine Sehnsucht. Der Schmerz bleibt stumm, die Welt teilnahmslos. Der Höhepunkt des Gedichts ist die letzte Strophe, in der das Ich sich mit dem „Göttlichen“ konfrontiert. Was als letzte Hoffnung erscheint, wird zum Moment tiefster Enttäuschung: Das Göttliche bringt keinen Trost, sondern Zerschmetterung – ein Zusammenbruch, in dem die flehende Stirn an der göttlichen Gleichgültigkeit zerbricht.

„Du“ ist ein expressives, existenzielles Gedicht, das tief in die Seelenlandschaft eines Ichs blickt, das zwischen Liebe, Verlangen, Verzweiflung und metaphysischer Einsamkeit steht. Gertrud Kolmar schafft hier ein erschütterndes poetisches Zeugnis weiblicher Subjektivität und innerer Zerrissenheit – ein Ringen um Sinn, Antwort und Erlösung, das in sprachlicher Kühnheit und emotionaler Dringlichkeit seinesgleichen sucht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.